Freikirchen

Situation in der Gegenwart

Der im 19. Jahrhundert erstmals im Englischen benutzte Begriff "Free Church" wird in wörtlicher Übersetzung "Freikirche" im deutschsprachigen Raum für Kirchen bzw. Gemeindebünde benutzt, die sich als evangelisch bezeichnen oder zumindest in reformatorischer Tradition sehen, aber keine ev. Staatskirchen bzw. (nach 1918/19) Landeskirchen  sind. Dies gilt innerhalb Deutschlands insbesondere für die Mitgliedskirchen der Vereinigung Evangelischer Freikirchen  e.V. (VEF ). 1926 gegründet von damaligen Verbänden von Methodisten, Baptisten und Freien evangelischen Gemeinden gehören derzeit zur VEF als Mitglieder:
-    Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R. (AMG)
-    Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R. (BEFG)
-    Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R. (BFeG)
-    Evangelisch-methodistische Kirche K.d.ö.R. (EmK)
-    Die Heilsarmee in Deutschland K.d.ö.R . (HA)
-    Kirche des Nazareners e.V. (KdN)
-    Freikirchlicher Bund der Gemeinde Gottes e.V  .
-    Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden e.V. (MV)
-    Anskar-Kirche e.V .
-    Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden K.d.ö.R. (BFP )
-    Gemeinde Gottes in Deutschland K.d.ö.R .
-    Foursquare Deutschland e.V .
als Gastmitglieder:
-    Evangelische Brüder-Unität K.d.ö.R., Herrnhuter Brüdergemeine 
-    Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland K.d.ö.R. (STA)
-    Apostolische Gemeinschaft e.V .


Längst nicht alle VEF-Mitglieder tragen also in ihrem Namen den Begriff "Freikirche"; fast alle bezeichnen sich aber auf ihrer Netzseite entsprechend. Umgekehrt gilt, dass mit der VEF-Mitgliederliste viele weitere freikirchliche Gemeinden und Bünde, die ebenfalls mehr oder weniger in reformatorischer Tradition stehen, nicht erfasst sind. Das gilt insbesondere für weite Teile des russlanddeutschen Protestantismus in Deutschland (insbesondere viele Mennoniten, Baptisten, Pfingstler, aber z.B. auch ein Teil der lutherischen Brüdergemeinden). Das gilt gleichfalls u.a. für einen großen Teil der internationalen Gemeinden, für die Hausgemeindebewegung, für die sogenannten Lifestylekirchen (Hillsong, ICF, C3 etc.) und zahlreiche weitere Gemeinden der charismatischen und der Pfingstbewegung. Viele von diesen sowie weitere selbständige Gemeinden, davon etliche erst in den letzten Jahrzehnten gegründet, bezeichnen sich selbst als "Freikirche", z.B. einige Vineyard- und Calvary-Chapel-Gemeinden. Hintergrund ist zumeist eine Selbstabgrenzung von Sekten bzw. von Gemeinschaften, die in der Gesellschaft als Sekten angesehen werden. Das führt allerdings dazu, dass manche der "klassischen" Freikirchen bzw. Angehörige von diesen mit der Anwendung des Begriffs auf sich selbst zurückhaltend geworden sind, weil im deutschen Sprachgebrauch der 2010er Jahre "Freikirche" nicht selten synonym zu ‚Sekte‘ benutzt worden ist.

Auch die sogenannten altkonfessionellen Kirchen gehören nicht zur VEF, obwohl sie sich teilweise als Freikirche bezeichnen oder aus Kirchen hervorgegangen sind, die sich als Freikirchen bezeichnet haben, insonderheit der westdeutsche Teil der „Evangelisch-Lutherischen Freikirche“ (ELFK), der 1972 in der Selbstständig-Lutherischen Kirche (SELK) aufgegangen ist, sowie die Gemeinden dieser Freikirche, die selbständig geblieben sind und sich weiterhin ELFK nennen. Die Hochschule der SELK  arbeitet aber z.B. im Verein für Freikirchenforschung mit.
Die Situation in der Schweiz ähnelt teilweise der in Deutschland, vgl. die Mitgliederliste auf https://freikirchen.ch/. Während in Deutschland aber die Zahl der wöchentlichen Gottesdienstbesucher in freikirchlichen Gemeinden nur prozentual sehr viel höher liegt als in landeskirchlichen Gemeinden, ist dies in der Schweiz auch in absoluten Zahlen so.
In Österreich ist die Lage etwas anders, weil es dort traditionell eine andere konfessionelle Gemengelage gibt und eine andere staatsreligionsrechtliche Situation gegeben ist. So kam es 2013 zur Bildung der „Freikirchen in Österreich“ (FKÖ) als einer anerkannten Religionsgemeinschaft, die aus fünf unabhängigen und theologisch durchaus unterschiedlichen Gemeindebünden besteht.
 


Glaubens- und Gemeindeleben

In Analyse von § 1 der Satzung der VEF können bestimmte Merkmale von Freikirchen als in der Summe und in ihrem Zusammenhang für sie typisch hervorgehoben werden. Manche dieser Charakteristika finden sich auch in anderen Kirchen, aber nicht alle gemeinsam und in dieser Intensität:

  • Bibel als Grundlage für Verkündigung und Lehre und Leben/Gehorsam gegenüber den Weisungen der Bibel;
  • klares Christusbekenntnis der Gemeinde bzw. der Gemeindebünde und Kirchen sowie aller einzelnen Gemeindeglieder
  • „Kirche bzw. Gemeinde … gestaltet als Lebens- und Dienstgemeinschaft im Sinne des Priestertums aller Gläubigen“ unter besonderer Betonung der Ortsgemeinde
  • Trennung von Kirche und Staat , daher u.a. keine Kirchensteuererhebung ; Eintreten für Religions- und Gewissensfreiheit
  • Evangeliumsverkündigung als „Hauptaufgabe“
  • Diakonie und gesellschaftliche sowie globale Verantwortung

Diese Liste kann wie folgt ergänzt bzw. ausbuchstabiert werden:

  • Keine Parochial-, sondern Personalgemeinde:
    •    Prinzip der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft
    •    Gemeinschaft in einer überschaubaren Ortsgemeinde
    •    aktive Beteiligung eines Großteils der Gemeindeglieder
    •    regelmäßige Teilnahme am Gemeindeleben (v.a. Gottesdienst, Bibel- und Hauskreise)
    •    hohes finanzielles Engagement (‚Zehnter‘ häufig als Richtschnur)
    •    Gemeindezucht / exklusive Mitgliedschaftsregulierung 
    •    Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung und Episkopé (Kirchenaufsicht) häufig auch durch nicht-Ordinierte
  • Vielfältig sind dabei die Strukturen, in denen sich die Freikirchen bzw. ihre Gemeinden organisieren: Es gibt Weltkirchen wie STA, EmK und HA; dabei ist die erste eher synodal organisiert, die zweite hat den Konnexionalismus als Organisationsform ausgeprägt. Es gibt eher national organisierte kongregationalistische Bünde mit mal stärker, mal schwächer ausgeprägten internationalen Dachverbänden (z.B. AMG, BEFG, BFeG, BFP) und Freikirchen, die es nur in einem Land, manchmal nur in einer Region gibt. Partizipatorisch-demokratische Strukturen in Gemeinden bzw. Gemeindebünden sind in den sog. klassischen Freikirchen zumeist hoch entwickelt, in den sog. Lifestylekirchen werden sie teilweise explizit ausgeschlossen (z.B. in ICF und C3).

Diese Merkmale und Prinzipien von Freikirchen sind im Blick auf die inhaltliche Ausrichtung offen. So findet sich Modernitätskritik als inhaltliches Merkmal neuerer Freikirchenbildungen ebenso wie das Bemühen um eine Inkulturation des christlichen Glaubens in den Kontext einer beschleunigten Moderne. 
Freikirchen sind keine Territorialkirchen und im Prinzip auch nicht Volkskirchen. Und doch gibt es volkskirchliche Elemente: So sind die meisten Freikirchen, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts gegründet worden sind, auch Nachwuchskirchen, da ihre Mitglieder Kinder von Menschen sind, die bereits dieser Kirche angehört hatten. Inwieweit die klare Trennung von Kirche und Staat für alle Freikirchen bzw. für alle freikirchlichen Tätigkeitsfelder konzediert werden kann, ist Gegenstand der Diskussion, u.a. bezüglich der folgenden Fakten: Viele Freikirchen akzeptieren im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips  für ihre diakonischen Aufgaben Gelder des Staates genauso wie die sog. Großkirchen. Die VEF hat, wie letztere, einen Beauftragten am Sitz der Bundesregierung, und viele Freikirchen beteiligen sich an der Verkündigung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Immer wieder beantragen religionspädagogisch ausgebildete Mitglieder von Freikirchen bei evangelischen Landeskirchen die Zulassung zum Erteilen von Religionsunterricht in öffentlichen Schulen; andere beantragen die Zulassung zum Magisterexamen, zur Promotion oder Habilitation an staatlichen theologischen Fakultäten, die aber im Rahmen von Staatskirchenverträgen der konfessionellen Zuordnung zu evangelischen Landeskirchen unterliegen.
Definiert man Freikirchen eher aufgrund christentumssoziologischer Kategorien als aufgrund genuin theologischer Gesichtspunkte, können weitere Kirchen als Freikirche bezeichnet werden: neben den o.g. altkonfessionellen Kirchen insbesondere die Neuapostolische Kirche (NAK). Eine kleinere Kirche der apostolischen Konfessionsfamilie, die Apostolische Gemeinschaft e.V., gehört, wie oben ausgewiesen, als Gastmitglied zur VEF.
 


Ökumene

Mit Ausnahme zweier kleiner pfingstlicher Bünde sind alle Mitglieder und Gastmitglieder der VEF auch Mitglieder bzw. Gastmitglieder der ACK, nur wenige allerdings gehören zur GEKE , KEK oder zum ÖRK. In größeren Städten gibt es häufig etablierte informelle Kontakte freikirchlicher Pastoren, teilweise auch Pastorinnen untereinander, genauso aber auch bewährte Kooperationen mancher freikirchlicher Gemeinden mit solchen aus Landeskirchen, rk. Pfarrgemeinden etc.

Viele Angehörige von Freikirchen engagieren sich in der Evangelischen Allianz (EAD). Viele andere Mitglieder von Freikirchen legen großen Wert darauf, dass ‚Freikirche‘ nicht mit ‚evangelikal‘  gleichgesetzt wird. Entsprechende Differenzierungen sind zu machen bezüglich der Bibelhermeneutik, Genderfragen, LGBTQI+-Rechten, Schutz des ungeborenen Lebens usw. Nicht von ungefähr gibt es in den Weltkirchen der EmK / United Methodist Church und der STA aktuell Spaltungsgefährdungen gerade wegen Auseinandersetzungen um Frauenordination oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften.

Lothar Triebel

gegengelesen von Markus Iff


Literatur

  • Geldbach, Erich, Freikirchen – Erbe, Gestalt und Wirkung, Bensheimer Hefte 70, 2. neubearb. Aufl. Göttingen 2005.
  • Iff, Markus, Unbrauchbar und unverzichtbar? Zur bleibenden Bedeutung des Begriffs „Freikirche“ im deutschsprachigen Raum, in MdKI 2/2021, 18-26.
  • Kick, Annette, Hemminger, Hansjörg: Unabhängige Gemeinden neben Kirchen und Freikirchen, EZW-Texte 265, Berlin 2020.
  • Stolz, Jörg et al., Phänomen Freikirchen: Analysen eines wettbewerbsstarken Milieus, CULTuREL 5, Zürich 2014.
  • Voigt, Karl Heinz, Freikirchen in Deutschland. (19. und 20. Jahrhundert), KGE III/6, Leipzig 2004.
  • Zeitschriften: Theologisches Gespräch. Freikirchliche Beiträge zur Theologie, Jg. 1 (1977) ff; Zeitschrift für Theologie und Gemeinde, Jg.1 (1996) ff; Jahrbuch Freikirchenforschung, Jg. 1 (1991) ff.
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