Kirche und Staat
Definition, Modelle
Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche sowie die theologische Bewertung des Staates stellen ein komplexes Phänomen dar. Neben den jahrhundertelangen Erfahrungen der christlichen Kirchen weltweit mit völlig unterschiedlichen Staatsformen und politischen Systemen (beginnend mit den Verfolgungen im Römischen Reich über die byzantinischen und mittelalterlichen Monarchien bis hin zum Kommunismus und den parlamentarischen Demokratien des 20. Jahrhunderts), sind verschiedene Modelle der Beziehungen zwischen der weltlichen und der geistlichen Macht entwickelt worden:
Während der Cäsaropapismus eine Situation beschreibt, in der der Staat die gesetzgebende Macht über die Kirche ausübt (z.B. in der Zeit des landesherrlichen Kirchenregiments), trägt der Papocäsarismus der umgekehrten Situation Rechnung, der Herrschaft der Kirche über den Staat (z.B. in der „Zwei-Schwerter-Theorie“, wie sie 1302 von Papst Bonifatius VIII. in seiner Bulle „Unam sanctam“ formuliert wurde). Die radikale Trennung zwischen Staat und Kirche sowie die Verdrängung der Religion in den Bereich des Privaten entsprang dem Gedankengut der Französischen Revolution und wurde zur Leitidee zahlreicher totalitärer Regierungen im 20. Jahrhundert. Das Modell der Staats- oder Volkskirche beschreibt eine meist historisch gewachsene Verflechtung mit einer bestimmten Religionsgemeinschaft, der gewisse (Ehren)rechte zugesprochen werden (z.B. der britische Monarch als obligatorisches Mitglied der Anglikanischen Kirche). Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland kann als Kooperationssystem zwischen Staat und Kirche beschrieben werden, da der Staat die gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen zum einen anerkennt, sich zum anderen jedoch zu Neutralität, Parität und Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten der jeweiligen Religionsgemeinschaften verpflichtet.
Situation in den veschiedenen Konfessionen
Nach dem II. Vatikanische Konzil, dessen Texte als offizielle Lehrmeinung der Römisch-katholischen Kirche betrachtet werden, ist die Existenz staatlicher Autoritäten „in der menschlichen Natur begründet und gehört zu der von Gott vorgebildeten Ordnung“ (Gaudium et spes = GS, Nr. 74). Die Bestimmung der Regierungsform bleibt dem freien Willen der Staatsbürger überlassen; Letztere sind ihr jedoch „im Gewissen zum Gehorsam verpflichtet“ (ebd.). Das bedeutet, dass sie „innerhalb der Grenzen des Naturrechts und des Evangeliums“ ihre Rechte gegen die Staatsgewalten durchaus verteidigen dürfen, wenn diese „ihre Zuständigkeiten überschreiten“ (ebd.), also nicht im Sinne des Gemeinwohls handeln. Die politische Gemeinschaft und die Kirche werden schließlich als „voneinander unabhängig und autonom“ (GS 76) definiert, obgleich beide den Menschen dienen. Allein durch diesen Dienst wollen die Autoren die Pflege „des rechten Zusammenwirkens“ (ebd.) von Kirche und Staat legitimiert wissen. Ein sehr zentraler Punkt für das zweite Vatikanische Konzil ist die Religionsfreiheit. In der Erklärung Dignitatis Humanae wird betont, „dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat“ (DH 2). Ferner erklärt das Konzil, „das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird“ (ebd.).
Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche nach evangelischem Verständnis finden ihren Anfang in Luthers Obrigkeitsschrift von 1523. Er betonte wie Augustinus die Unterscheidung der Bereiche von Gott und Welt und er sah Kirche und Staat als zwei „Regimente“, die von Gott her bestimmt sind, aber verschiedene Aufgaben haben: Die Kirche predige und vergebe die Sünden ohne weltliche Macht, die Aufgabe des Staates jedoch besteht darin, der „wuchernden Auswirkung des Unrechts durch Aufrichtung äußerer Schranken zu wehren und Leib und Leben der Untertanen zu fördern sowie vor internem oder externem Angriff zu schützen“. Während Gott völlig zwanglos und allein durch den Geist des Evangeliums regiert, bedient sich der Staat, in welchem der Ungeist des Bösen übermächtig zu werden droht, der Zwangsgewalt. Dem Papsttum wird vorgeworfen, eine Vermischung der weltlichen und geistlichen Sphäre, die der biblischen Trennung zwischen Kaiser und Gott völlig widerspricht, zu sein. Als unverzichtbare Bekenntnisschrift gilt heute die Barmer Theologische Erklärung, die eigentlich gegen die deutschen Christen in der Nazi-Zeit verfasst wurde und die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und die Verwerfung des Totalitarismus beinhaltet: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden“ (These 5).
In der Orthodoxie der Neuzeit wird von den meisten Autoren auf das Ideal der byzantinischen Symphonie-Lehre verwiesen und an die Gegenwart angepasst. Im August 2000 verabschiedete z.B. das Bischofskonzil der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) ein Dokument zu den „Grundlagen der Sozialkonzeption“ der ROK. Für die Bischöfe der ROK steht fest, dass sich in der orthodoxen Tradition „eine bestimmte Vorstellung der idealen Form der Kirche-Staat-Beziehung entwickelt“ (Sozialkonzeption, III.4) hat – die sog. Symphonie-Lehre. In der Gesetzgebung Kaiser Justinians (6. Jahrhundert) wird sie definiert: Das König- und Priestertum werden als die „erhabensten Güter, die den Menschen durch die höchste Gütigkeit Gottes verliehen sind“ (ebd.), dargestellt. Beide Gewalten dienen den Menschen in ihren getrennten Aufgabenbereichen und gelangen „in allem wohlgeordnet und gottgefällig […] zu vollkommener Eintracht“ (ebd.). Die Autoren der russischen Sozialkonzeption postulieren – ohne ihre Ausführungen weiter begründen zu wollen –, dass „sich die Beziehungen zwischen der kirchlichen und der staatlichen Macht im alten Russland durch größere Harmonie“ auszeichneten, während in Byzanz „cäsaropapistische Tendenzen“ nicht selten überhandnahmen (ebd.). Die byzantinische Symphonie wird heute von der Orthodoxen Kirche als ein Ideal einer Kooperation zwischen Staat und Kirche verstanden. Staat und Kirche sind getrennte Institutionen, die aber göttlichen Ursprungs sind und sich an die gleichen Adressaten richten, nämlich die Menschen eines Landes. Der Staat soll mit der Kirche zum Wohle der Menschen und zur Erhaltung der christlichen Tradition, die als abendländisches Erbe und als Basis für das Menschenheil verstanden wird, kooperieren.
Die Pfingstkirchen (Pentekostalismus) wiederum entwickeln eine distanzierte Haltung zum Staat und nutzen die Kooperationsangebote des Verfassungsstaates kaum oder nur selten.
Position der Kirchen in Deutschland im ökumenischen Vergleich
Zur Thematik der Beziehungen zwischen Staat und Kirche überwiegen eindeutig die Konvergenzen gegenüber den Divergenzen. Die Hauptthemen, die es hier zu erwähnen gilt, sind das Neue Testament als gemeinsame Quelle des Glaubens, das Autonomie- und das Kooperationsprinzip.
- Im Neuen Testament ist die Beziehung zwischen Staat und Kirche einerseits durch den Unterwerfungsgedanken gegenüber der Staatsmacht, unabhängig davon, wer der Träger dieser Staatsmacht ist, und von der Unterscheidung zwischen der weltlichen und geistlichen Sphäre andererseits, gekennzeichnet. Ersteres Prinzip basiert auf Röm 13, 1: „Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalt unter. Denn es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt“ (Einheitsübersetzung). Nach den Kirchenvätern der ersten drei Jahrhunderte ist die Kirche keine revolutionäre Macht, die das Ziel verfolgt, die Weltordnung in irgendeiner Art und Weise ändern zu wollen. Die Christen leben in dieser Welt nur als Fremde, ihre eigentliche Heimat ist im Himmel. Demzufolge sind die weltliche und die kirchliche Macht völlig verschieden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass unter den Christen völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Umständen in der Welt herrscht, vielmehr tragen sie die Verantwortung, einen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft beizusteuern. Sie sollen daher stets auf das Gebot Christi achten, welches lautet: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21).
- Das Prinzip der Autonomie, das in der Ordnung und Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten wie im Grundgesetz formuliert ist, entspricht dem ekklesiologischen Verständnis fast aller christlichen Gemeinschaften. Jede Kirche „ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten“ selbständig, ohne jegliche staatliche Einmischung (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 III WRV). Dem Staat ist jede Einflussnahme auf die kirchliche Rechtsetzung, Verwaltung, Rechtsprechung und Ämterbesetzung untersagt. Kirchen sind nach ihrem Selbstverständnis organisatorisch vom Staat verschieden, erfüllen geistliche und religiöse Ziele und unterliegen nicht der staatlichen Aufsicht.
- In Deutschland werden die Beziehungen zwischen Staat und Kirche vom Grundgesetz durch das Prinzip der Kooperation bestimmt. Durch das Verbot einer Staatskirche (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV) und die daraus resultierende Parität aller Religionsgemeinschaften können alle christlichen Kirchen ihren Anspruch verwirklichen, als geistliche Gemeinschaften in freier Betätigung auf die Öffentlichkeit zu wirken und ihre Verkündigung in den modernen Formen des öffentlichen Lebens wahrzunehmen.
Aus dem Kooperationsprinzip resultiert die Anerkennung des öffentlichen Auftrages der Kirchen: Sowohl die Katholische als auch die Evangelische Kirche genießen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Viele Orthodoxe Kirchen bekamen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR) gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV zuerkannt. Der Status der KdöR wurde per Antrag erlangt, wobei die Verfassung dieser Kirchen und die Mitgliederzahl als Indiz für den zukünftigen Bestand sowie Mindestbestandszeit und Staatstreue als Grundlage für die Einschätzung dienten. Mit diesem Status sind besondere Rechte verbunden, so z.B. das Recht zum Steuereinzug bei ihren Mitgliedern, die Dienstherrnfähigkeit (Möglichkeit, die Rechtsstellung ihrer Bediensteten öffentlich-rechtlich auszugestalten), die Rechtssetzungsbefugnis (für eigenes Binnenrecht, z.B. Regelungen zur innerkirchlichen Organisation und zum Mitgliedschaftsverhältnis) sowie das Recht, kirchliche öffentliche Sachen durch Widmung zu schaffen. Ebenfalls gewährt der Status als KdöR u.a. steuerliche Begünstigungen oder die Gewährung von Vollstreckungsschutz. Die orthodoxen Kirchen haben bis jetzt von ihrem Recht auf Besteuerung ihrer Mitglieder keinen Gebrauch gemacht, diese Möglichkeit steht ihnen jedoch jederzeit offen.
Zeichen der Kooperation zwischen Staat und Kirchen sind auch manche wichtigen Rechte, die für alle gelten und nicht an den Status als KdöR gebunden sind, z.B. die Vertretung im öffentlichen Rundfunk, wie etwa die Übertragung von Gottesdiensten und die Teilnahme an den entsprechenden Gremien der Rundfunkanstalten. Zudem zählen dazu der Betrieb von Krankenhäusern und Altersheimen, die Anstaltsseelsorge und vor allem der Zugang zur Erteilung von Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG. Orthodoxe Schüler werden an großen orthodoxen Feiertagen vom Unterricht befreit.
Schließlich sind aber auch einige Punkte zu benennen, in denen es bis heute Divergenzen zwischen den verschiedenen christlichen Kirchen gibt:
a) Die Stellung der Kirchen zur Demokratie
In der Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985 wird verlautbart: „Für Christen ist es wichtig zu erkennen, dass die Grundgedanken, aus denen heraus ein demokratischer Staat seinen Auftrag wahrnimmt, eine Nähe zum christlichen Menschenbild aufweisen. Nur eine demokratische Verfassung kann heute der Menschenwürde entsprechen. Das ist bei aller Unsicherheit in der Auslegung von Verfassungsprinzipien und bei allem Streit um deren politische Gestaltung“ festzuhalten. Im Gegensatz dazu lässt die Katholische und die Orthodoxe Kirche die Staatsform frei und die Bürger können entsprechend entscheiden. Eine gewisse Bewegung hin zur Demokratie zeigt sich jedoch in beiden Kirchen, jedoch ohne eine so starke Formulierung wie in der Denkschrift der EKD. In der Sozialkonzeption des Ökumenischen Patriarchates aus dem Jahr 2020 fand eine positive Wende in der Anthropologie der Orthodoxe Kirche in Bezug auf die Demokratie statt, die den „seltenen Segen“ und „besonderen Geniestreich der Moderne“ darstellt, und welche aufrechtzuerhalten „allen Christen obliegt“. Ferner stimme „die Sprache der Menschenrechte in jedem Sinne mit den fundamentalsten Grundsätzen überein, die jedem christlichen Gewissen mitgeteilt werden [II § 10].
b) Die Anwendung des Demokratie-Prinzips und der Menschenrechte in der innerkirchlichen Rechtsordnung
In der innerkirchlichen Rechtsordnung wird in der Orthodoxen und in der Katholischen Kirche das Hierarchie- und nicht das Demokratieprinzip angewendet. Die Kirchen der EKD versuchen durch eine vermehrte Teilnahme von Laien an den Synodalorganen sich an das staatliche parlamentarische System anzugleichen.
c) Konkordate und Staatskirchenverträge
Der Bund, aber vor allem die Bundesländer, schließen völkerrechtliche Verträge mit der Römisch-katholischen Kirche (vertreten durch den „Heiligen Stuhl“ als Völkerrechtssubjekt), die nach Art. 59 Abs. 2 GG gelten und als Konkordate bezeichnet werden. Entsprechende sog. (Staats-)Kirchenverträge werden mit den evangelischen Landeskirchen geschlossen, sowie mit kleineren protestantischen Gemeinschaften. Mit den orthodoxen Kirchen in Deutschland gibt es noch keine solche Verträge.
Anargyros Anapliotis
Literatur
Abschnitt „Kirche und Staat“, in: St. Haering u.a. (Hg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, 3. Auflage, Regensburg 2015, 1769-1865.
Campenhausen, Axel Freiherr von / De Wall, Heinrich: Staatskirchenrecht, 4. Auflage, München 2006.
De Wall, Heinrich / Muckel, Stefan: Kirchenrecht. Ein Studienbuch, 6. Auflage, München 2022.
Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Dietrich Pirson, Wolfgang Rüfner, Michael Germann und Stefan Muckel, 3. Auflage, 3 Bände, Berlin 2020.
Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht (LKRR), hg. v. Heribert Hallermann, Thomas Meckel, Michael Droege und Heinrich De Wall, 2. Auflage, 4 Bände, Paderborn 2019-2020.