Herrnhuter Brüdergemeine

Situation in der Gegenwart

Die Herrnhuter Brüdergemeine/Evangelische Brüder-Unität (lat. Unitas Fratrum) ist eine weltweite, in eigenständige „Provinzen“ und „Missionsprovinzen“ gegliederte Kirche, die sich als internationale Einheit versteht. Sie hat gegenwärtig ca. 1.150.000 Mitglieder. Ihre Wurzeln liegen in der Hussitischen Reformation und deren Auswirkungen am Ende des 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Böhmen. Die Brüder-Unität hat als grundlegende Verfassung eine für alle Provinzen geltende Kirchenordnung, die „Church Order of the Unitas Fratrum“ (COUF). Von den Mitgliedern der gesamten Brüder-Unität leben derzeit etwa 77% in Afrika, 18% in der Karibik, 3,5% in Nordamerika und nur 1,5% in Europa, wo sich die Brüder-Unität als evangelische Freikirche versteht, d.h. als Glaubensgemeinschaft derjenigen, die bewusst, willentlich und verbindlich Mitglieder sind. In Deutschland hat die Herrnhuter Brüdergemeine den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (K.d.ö.R.). In der weltweiten Entwicklung der Brüder-Unität hat sich das Gravitationszentrum der Kirche deutlich in den Süden verschoben. 

Charakteristisch für die Vielfalt der Brüder-Unität ist die Tatsache, dass verschiedene Namen für sie im Gebrauch sind. Der Name „Brüder-Unität“ artikuliert das Selbstverständnis: es geht um eine kirchliche Gemeinschaft, die auf dem Prinzip der brüderlichen bzw. geschwisterlichen Verbundenheit beruht. Der Name „Herrnhuter Brüdergemeine“ hingegen bezieht sich auf den Ort der Neugründung der Glaubensgemeinschaft 1722/1727 in der sächsischen Oberlausitz. In den Niederlanden hat sich der Begriff „Herrnhutters“ durchgesetzt, im anglo-amerikanischen Sprachraum seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung „Moravian Church“ (Mährische Kirche), der an die mährischen Exulanten erinnert, die von Böhmen und Mähren kommend über Herrnhut in den anglo-amerikanischen Sprachraum hinein missionarisch wirkten.

Das wichtigste Symbol der Brüder-Unität ist das Bild des Lammes mit der Siegesfahne, das von den Worten umrandet ist: „Vicit Agnis Noster Eum Sequamur“ – „Unser Lamm hat gesiegt, lasst uns ihm nachfolgen“. Das Bild des Siegeslamms ist ein allgemeines christliches Symbol, das bis ins 4. Jh. zurückreicht. Das Besondere und die Brüder-Unität Kennzeichnende ist die Verbindung des Lamm-Symbols mit der erwähnten Umschrift. Dieses Lamm-Signet taucht erstmals im 17. Jahrhundert auf einem Siegel der Böhmischen Brüder auf und wurde 2016 durch die Unitäts-Synode als höchstes Leitungsorgan der weltweiten Brüder-Unität zu ihrem offiziellen Motto erhoben.

Lamm-Signet mit lateinischer Umschrift
Lamm-Signet mit lateinischer Umschrift, Foto: Peter Vogt / EBU

Geschichte

Die Herrnhuter Brüdergemeine und weltweite Brüder-Unität wurzelt in der Geschichte der Böhmischen Brüder, einer kirchlich-religiösen Gruppe der Hussitischen Reformation. Neben Jan Hus (um 1370-1415)  war für die Böhmischen Brüder besonders der Laienprediger und Schriftsteller Petr Chelčický (um 1390-1460) prägend. Unter seinem Einfluss reifte der Entschluss der ersten Mitglieder, sich 1457/58 im Dorf Kunwald im Adlergebirge niederzulassen und eine eigenständige Gemeinschaft zu bilden. Sie wollten ihre Vorstellungen vom wahren Christentum in konsequenter Machtablehnung und Gewaltlosigkeit verwirklichen und Kirche als Kontrastgesellschaft leben. Um 1480 schloss sich eine Gruppe deutscher Waldenser, die in Böhmen und Mähren Zuflucht suchten, den Böhmischen Brüdern an, wodurch ein deutschsprachiger Zweig der Brüder-Unität entstand. 

Im 16. Jahrhundert kam es in der Brüder-Unität zu einem Wandel im Verhältnis zur Gesellschaft und ihren Institutionen. Ein beispielhaft christliches Leben sollte nun im gesellschaftlichen Leben geführt werden, nicht mehr abseits davon. Nach 1620 gerieten unter König Ferdinand II. die protestantischen Kirchen in Böhmen und Mähren unter Druck. Die evangelischen Pfarrer und der evangelische Adel mussten das Land verlassen. Der letzte tschechische Bischof der Brüder-Unität war Johann Amos Comenius (1592-1670), der als Pädagoge und Universalgelehrter wichtige Beiträge zur europäischen Geistes- und Kulturgeschichte leistete.

Am 17. Juni 1722 siedelten Flüchtlinge aus Mähren mit dem Einverständnis des Reichsgrafen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760) am Hutberg in der Parochie Berthelsdorf in der Oberlausitz. Die Ansiedlung wurde Herrnhut genannt und es entstand unter Zinzendorfs Einfluss eine pietistische geprägte Gemeinschaft. Diese entwickelte sich zu einer selbstständigen Kirche und wurde zugleich eine international ausstrahlende Erneuerungsbewegung und Missionskirche. Wichtige Stationen dabei waren die sogenannten Herrnhuter Statuten vom Mai 1727, die eine verbindliche Lebensordnung schufen, und eine Abendmahlsfeier am 13. August 1727, die zur Erweckung und inneren Einigung der Gemeinde führte. Das Herrnhuter Gemeindeleben beinhaltet die Einrichtung von Laienämtern, die Wahl von Ältesten, Gliederung der Gemeinschaft in Seelsorgegruppen sowie die Einrichtung eines fortlaufenden Stundengebets. Es gab tägliche gottesdienstliche Versammlungen, darunter neue Formen wie Liebesmahl und Singstunde. Als tägliche geistliche „Parole“ kamen ab 1729 die sogenannten Herrnhuter Losungen in Gebrauch, die seit 1731 in schriftlicher Form verbreitet werden. 

Ab den 1730er-Jahren beginnt die Herrnhuter Brüdergemeine mit ihrer weltweiten missionarischen Tätigkeit und entwickelt diese in den folgenden 200 Jahren in der Spannung von europäischer Kultur und indigenem Kontext und zumeist in einer gewissen Distanz zum staatlichen Kolonialismus. Eine kontextuelle Theologie gab es in der Herrnhuter Brüdergemeine bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht.    

An der Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam nahmen mehrere Abgeordnete der Herrnhuter Brüdergemeine teil. Die Brüder-Unität führte 1957 in Bethlehem, Pennsylvanien, mit 50 Vertretern aus 16 Ländern erstmals eine Synode in englischer Sprache durch, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Zusammenhalt der weltweiten Unität festigte. Es wurde eine neue Kirchenordnung für alle Provinzen beschlossen, die eine Erklärung zur theologischen Basis enthielt, die bis in die Gegenwart als „Grund der Unität“ bezeichnet wird.  

Dorf Kunwald im Adlergebirge
Das Dorf Kunwald im Adlergebirge, Foto: Peter Vogt / EBU
Synode der Herrnhuter Brüdergemeine
Synode der Herrnhuter Brüdergemein, Foto: Peter Vogt / EBU

Glaube

Die Brüder-Unität besitzt keine eigenen Bekenntnistexte, mit denen man sich vom Glauben anderer Kirchen und Gemeinschaften abgrenzt. 

Mit allen anderen christlichen Kirchen teilt die Herrnhuter Gemeine den Glauben an den Dreieinen Gott, die Offenbarung Gottes in der Menschwerdung Jesu Christi und die Erlösung durch seinen Tod und seine Auferstehung. In dem 2012 beschlossenen Leitbild der Brüder-Unität (Europäische Festländische Provinz) wird festgehalten, dass der Kreuzestod und die Auferstehung Jesu Christi im Zentrum des Glaubens stehen. 

Der Glaube der Kirche wird im persönlichen Glaubensvollzug ihrer Mitglieder lebendig. In der Betonung des persönlichen Glaubens spiegelt sich das freikirchliche Selbstverständnis der Brüdergemeine wider. Der individuelle Glaubensweg ist ein wesentlicher Aspekt von Kirchenmitgliedschaft und ist unersetzlich. 


Kirchliches Leben

Die Brüder-Unität versteht und bezeichnet Gottesdienst in erster Linie als Versammlungen der Gemeinde (Predigtversammlung, Abendmahlsfeier, Singstunde, Gebetsversammlung). In der Frömmigkeit der Herrnhuter Brüdergemeine gehören Glaube und Alltag, Gebet und Arbeit aufs Engste zusammen.  

Die Brüder-Unität kennt, wie andere evangelische Kirchen auch, die beiden Sakramente  Taufe und Abendmahl. Die Kindertaufe wird als Normalfall praktiziert, es gibt aber auch die Möglichkeit eines Taufaufschubs. Die Taufe in einer anderen christlichen Kirche, die im Namen des dreieinigen Gottes mit Wasser vollzogen wurde, wird in der Brüder-Unität anerkannt. Die Feier des Abendmahls ist vom Gedanken der Versöhnung und Gemeinschaft bestimmt. Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Brüder-Unität ist die Taufe. Die Aufnahme in die Abendmahlsgemeinschaft geschieht durch konfirmierendes Handeln, und ab dem 16. Lebensjahr können junge Menschen ihre kirchliche Mitgliedschaft bestätigen. Für Angehörige einer anderen evangelischen Kirche ist Doppelmitgliedschaft in der Brüdergemeine möglich.

Die Brüder-Unität versteht und gestaltet kirchliches Leben auf der Grundlage des Priestertums aller Gläubigen. Es gibt eine dreifache Ordnung des geistlichen Amtes: die Ordination zum Diakonus, die Einsegnung zum Presbyter und die Einsegnung zum Bischof. Das Bischofsamt ist in der Brüder-Unität vorwiegend ein seelsorgerliches und kein kirchenleitendes Amt. Bischöfe werden jeweils von einer Provinzialsynode gewählt und sind zugleich Zeichen einer provinzübergreifenden Verbundenheit. 

Neben der Gemeindearbeit spielt für das kirchliche Leben der Brüder-Unität die Missions- und Bildungstätigkeit eine zentrale Rolle. So betreibt die Brüder-Unität weltweit Einrichtungen in den Bereichen Bildung und Diakonie. Zur Brüder-Unität gehören eigene Missionsorganisationen, die in Europa, Großbritannien und den USA in ökumenischen Missionswerken mitarbeiten.

Abendmahlskelche
Abendmahlskelche beim Herrnhuter Abendmahl, Foto: Peter Vogt / EBU
Bild einer Ordination
Ordination in der Herrnhuter Brüdergemeine, Foto: Peter Vogt / EBU
Schale mit Taufwasser
Taufe in der Herrnhuter Brüdergemeine, Foto: Peter Vogt / EBU

Kirche und Staat

Im Verhältnis zum Staat betont die Brüder-Unität die kirchliche Autonomie und präsentiert sich im europäischen Kontext außerhalb des Rahmens privilegierter staatskirchlicher Strukturen. Sie arbeitet weltweit mit politischen Institutionen beispielsweise in den Bereichen Diakonie und Bildung zusammen.


Ethik

Der für die Brüder-Unität zentrale Begriff der geschwisterlichen Verbundenheit bezieht sich nicht allein auf eine Form der religiösen Gemeinschaft, sondern auch auf eine soziale Norm. Daraus leitet die Brüder-Unität u.a. friedenspolitisches Engagement und Einsatz für Bildungsgerechtigkeit ab.


Ökumene

Die Brüder-Unität ist ein ökumenischer Mikrokosmos, der bewusst die Vielfalt unterschiedlicher Traditionen in sich aufnimmt. Sie ist Gründungsmitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), Mitglied der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) sowie der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland. Sie ist sowohl mit der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) assoziiert als auch Gastmitglied in der Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF). 

Markus Iff

gegengelesen von Jill und Peter Vogt


Literatur

  • Atwood, Craig D.: Jesus Still Lead On. An Introduction to Moravian Beleif, Bethlehem/PA 2004.
  • Beck, Hartmut: Brüder in vielen Völkern. 250 Jahre Mission der Brüdergemeine, Erlangen 1981.
  • Meyer, Dietrich (Hg.): Nikolaus Graf von Zinzendorf. Er der Meister, wir die Brüder. Eine Auswahl seiner Reden, Briefe und Lieder, Gießen 2000.
  • Meyer, Matthias / Vogt, Peter (Hg.): Die Herrnhuter Brüdergemeine (Evangelische Brüder-Unität/Unitas Fratrum). Die Kirchen der Gegenwart 6, Göttingen 2020.
  • Bøytler, Jørgen: Ecclesiology and Culture in the Moravian Church, Aarhus 2009.
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