Lutherische Landeskirchen

Definition

Lutheraner, die Mitglieder der evangelisch-lutherischen Kirchen, folgen der Tradition eines entscheidend von Martin Luther und seinen Mitstreitern wie z.B. Philipp Melanchthon geprägten Hauptflügels der Reformation. Zuerst von seinen Gegnern abqualifizierend verwendet, ist der Begriff „Lutheraner“ nach der Mitte des 16. Jahrhunderts als Selbstbezeichnung gebräuchlich, ursprünglich mit der Absicht der Abgrenzung sowohl vom römischen Katholizismus, als auch von den Reformierten.
 


Entstehung und heutige Struktur

Martin Luther wollte ursprünglich keine neue Kirche gründen, sondern die vorhandene reformieren, bzw. erneuern, damit sie zur Wahrheit des Evangeliums zurückkehrt. Die Entstehung selbstständiger kirchlicher Strukturen erfolgte allmählich: Die Impulse Luthers stießen auf die Ablehnung der Instanzen der Römisch-katholischen Kirche, gewannen aber Resonanz in der Bevölkerung vor allem in Deutschland und bald auch in Skandinavien. Ihre Ausbreitung wurde von den politischen Verhältnissen der damaligen Zeit begünstigt. 
Bereits am Beginn der Reformation wurden theologische Unterschiede zwischen mehreren ihrer Hauptgestalten deutlich, wie z. B. in der Abendmahlsfrage (Luther, Zwingli, Calvin), die sich noch vor dem Ende des 16. Jahrhunderts verfestigten und zur Entstehung verschiedener evangelischer Konfessionen führten.
Von der Theologie der ersten lutherischen Reformatoren bis zur Auseinandersetzung mit der Aufklärung und der Entstehung der pietistischen Strömungen, von den Impulsen der historisch-kritischen Exegese bis zum Kulturprotestantismus, vom Umgang mit der antichristlichen nationalsozialistischen Ideologie bis zur ökumenischen Horizonterweiterung besonders in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und bis heute haben die Lutheraner eine facettenreiche Theologie und Geschichte vorzuweisen. 
Ihre heutige weltweite Ausbreitung verdanken sie u.a. der Arbeit von Missionsgesellschaften in mehreren Kontinenten sowie diversen Auswandererbewegungen. Nach der Römisch-katholischen Kirche und der Orthodoxie sind die Lutheraner die drittgrößte Konfession; unter den Protestanten bilden sie die größte Gruppe. Die überwiegende Zahl der Lutheraner lebt in den Kernländern der Reformation, Deutschland und Skandinavien. Aber auch in Amerika, Afrika und Asien gibt es große lutherische Kirchen.
Die lutherischen Kirchen sind weltweit von einem beachtlichen strukturellen und phänomenologischen Pluralismus gekennzeichnet. Es gibt Staatskirchen (z.B. in Skandinavien), Landeskirchen (in Deutschland), Freikirchen, Minderheitenkirchen und Diasporagemeinden. Der größte lutherische Zusammenschluss ist der Lutherische Weltbund (LWB) mit 148 Kirchen und ungefähr 75,5 Millionen Mitgliedern in 99 Ländern (Stand 2018). Zu ihm gehören auch die deutschen ev.-luth. Landeskirchen. Lutherische Kirchen, die für eine konservative Auslegung der Bekenntnisschriften stehen, sind im Internationalen Lutherischen Rat miteinander verbunden (54 Kirchen mit ca. 7, 5 Millionen Gläubigen [Stand: 2018]; aus Deutschland ist die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche Mitglied). Die dritte weltweit aktive lutherische Organisation ist die Konfessionelle Evangelisch-Lutherische Konferenz, ebenfalls konservativ in der theologischen Richtung, mit 24 Mitgliedskirchen und ca. 500.000 Gläubigen, zu der aus Deutschland die Evangelisch-Lutherische Freikirche gehört. 
In Deutschland ist etwa die Hälfte der 23 Millionen evangelische Christen lutherischer Konfession und gehört zu den hiesigen Landeskirchen. Der Begriff „Landeskirche“ erinnert an die territoriale Zersplitterung des deutschsprachigen Raums in der Reformationszeit und an den Augsburger Religionsfrieden (1555), der jedem Landesherrn das Recht einräumte, über die Religion seiner Untertanen zu entscheiden (cuius regio, eius religio). Heute gibt es neun lutherische Landeskirchen in Deutschland: Sieben von ihnen sind in der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) verbunden: die Evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig, die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens und die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe. Zwei weitere lutherische Kirchen gehören zwar dem LWB, nicht aber der VELKD an: die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg und die Evangelische Landeskirche in Württemberg. All diese Kirchen sind Mitglieder der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die lutherischen Landeskirchen sind episkopal-synodal strukturiert, mit einer Synode als zentralem Entscheidungsgremium; 2/3 der Synodalen sind Nicht-Ordinierte. Ein Landesbischof bzw. -bischöfin steht der Landeskirche nach außen vor.
 


Theologie

Basis der lutherischen Lehre bildet die Bibel als norma normans (= normierende Norm) und eine Reihe von Bekenntnisschriften, die in den lutherischen Kirchen, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, eine hohe Dignität genießen und als norma normata = (von der Bibel genormte Norm) wahrgenommen werden: Die Confessio Augustana (CA) und ihre Apologie von Philipp Melanchthon, die Schmalkaldischen Artikel Martin Luthers, Melanchthons Traktat von der Gewalt und Obrigkeit des Papstes, Luthers kleiner und großer Katechismus und die Konkordienformel. Das Konkordienbuch enthält neben den genannten Bekenntnissen die drei altkirchlichen Glaubensbekenntnisse: Apostolicum, Nicaeno-Konstantinopolitanum, Athanasianum. 
Die Grundthesen der lutherischen Theologie lassen sich in den vier „soli“ der Reformation zusammenfassen: 
„sola gratia“: Die Errettung erfolgt allein aus der Gnade Gottes und gilt als deren Geschenk. Gottes Erbarmen ist bedingungslos; keine menschlichen Werke können das Heil erzwingen. Der lutherischen Auffassung nach werden die guten Taten als Früchte eines lebendigen Glaubens wahrgenommen und gewürdigt.
„sola fide“: Die Rechtfertigung des Sünders wird allein durch den Glauben als Vertrauen auf Jesus Christus und auf die göttliche Gnade empfangen. Die Rechtfertigungslehre ist nicht ein Dogma unter vielen, sondern der Artikel „mit dem die Kirche steht und fällt“. 
„sola scriptura“: Allein die Bibel gilt als Quelle, Norm und Maßstab der kirchlichen Lehre und aller Glaubensaussagen. Hiermit wird aber weder ein reiner Biblizismus noch eine vernunftswidrige oder traditions- bzw. entwicklungsfeindliche Haltung impliziert. Die Schrift bleibt offen und einladend zu neuen Zugängen im Geiste hermeneutischer Freiheit.
„solus Christus“: Jesus Christus ist der einzige Heilsvermittler. Die Gnade Gottes ist bedingungslos, aber doch begründet in der  Person und dem Heilswerk Jesu Christi: das Evangelium kann man nur in der Begegnung mit dem gekreuzigten Christus erfahren. 
Die lutherische Anthropologie weist auf die Spannung zwischen Leben und Rechtfertigung einerseits und Tod und Sünde andererseits hin. Der Christ sieht die Wahrheit allein in Gott verankert, andererseits entfaltet er sein Leben in der Welt, die der Herrschaft der Sünde und des Todes obliegt. Er ist „simul iustus et peccator“, gleichzeitig Gerechter und Sünder. 
Die Lutheraner glauben, dass alle Getauften ein priesterliches Amt ausüben (allgemeines Priestertum) und stehen daher für eine aktive Teilnahme aller an der Gestaltung des Gemeinde- bzw. Kirchenlebens. Die Lutheraner lehnen eine hierarchische Verfassung der Kirche und deren Grundlegung im göttlichen Recht  – und daher unveränderbar – ab. Die meisten lutherischen Kirchen haben bereits die Frauenordination eingeführt.
Die Lutheraner halten die Taufe für unwiederholbar; praktiziert wird sowohl die Säuglings- als auch die Erwachsenentaufe. Sie anerkennen jede christliche Taufe, die mit Wasser und im Namen des dreieinigen Gottes vollzogen wird. Sie glauben an die Realpräsenz Christi beim Abendmahl, das heute i.d.R. wenigstens einmal pro Monat in den Gemeinden in beiderlei Gestalt (d.h. die Gläubigen erhalten Christi Leib/Brot und Blut/Wein) gefeiert wird.
Im gottesdienstlichen Leben der Lutheraner nimmt die Predigt des Wortes eine zentrale Rolle ein; auf das Singen der Gemeinde wird ebenfalls besonderer Wert gelegt (singende Kirche). Die Gestaltung des Gottesdienstes lässt die Kontinuität mit  alten liturgischen Traditionen des Christentums erkennen, gleichzeitig zeigt sie aber auch große Flexibilität und Offenheit je nach  Kontext.
 


Ökumene

Der lutherischen Auffassung nach ist die Kirche „die Versammlung der Heiligen, in der das Evangelium rein gelehrt und die Sakramente recht verwaltet werden“ (CA, Art. 7, lateinische Textfassung), und entsprechend vertreten die Lutheraner keine exklusivistische Ekklesiologie; ihre Kirche verstehen sie als wahren, aber nicht als einzigen Ausdruck der einen Kirche Jesu Christi. Die moderne ökumenische Bewegung hat einen großen Teil der Kirchen der Reformation zu der Überzeugung geführt, dass mehrere Unterschiede, die sie in der Vergangenheit voneinander trennten (z.B. Sakraments- und Ämterlehre), kein Hindernis für eine Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mehr darstellen. Auf der Grundlage der Leuenberger Konkordie von 1973 haben viele reformierte, unierte und lutherische Kirchen heute volle Kirchengemeinschaft untereinander. Insgesamt stehen die lutherischen Kirchen für einen Pluralismus von Strukturen, Gestaltungen des Amtes und gottesdienstlichen Formen, der die Einheit in versöhnter Verschiedenheit zeigt und bereichert. Sie unterstützen die Vision einer Gemeinschaft von Kirchen, in der kulturelle, nationale und konfessionelle Pluralität möglich ist und als bereichernd empfunden wird. Sie sind in bi- und multilateralen ökumenischen Dialogen auf allen Ebenen besonders aktiv. Die Lutherischen Kirchen haben zur Verabschiedung gewichtiger und durchaus rezipierter ökumenischer Entwicklungen bzw. Dokumente beigetragen. Im bilateralen Dialog zwischen dem LWB und der römisch-katholischen Kirche bildet z.B. die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre einen wichtigen Fortschritt. 

Georgios Vlantis

gegengelesen von Johannes Dieckow
 


Literatur

Kaufmann, Thomas: Geschichte der Reformation in Deutschland, Berlin 2016
Oberdorfer, Bernd / Schuegraf, Oliver (Hg.): Sichtbare Einheit der Kirche in lutherischer Perspektive / Visible Unity of the Church from a Lutheran Perspective, Leipzig 2017
Stolle, Volker: Lutherische Kirche im gesellschaftlichen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2019 
Wenz, Gunther: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, 2 Bde, Berlin / New York 1996/1998
 

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