Rechtfertigung
Der Begriff
Im christlich-theologischen Kontext hat der Begriff „Rechtfertigung“ einen anderen Sinn als im heute üblichen Sprachgebrauch. Im allgemeinen Sprachgebrauch heute meint „rechtfertigen“ zumeist „nachweisen, dass etwas berechtigt ist“ oder „sich gegen Vorwürfe verteidigen“. In der Bibel ist es anders gemeint. Im Verhältnis zu Gott ist eine Selbstrechtfertigung des Menschen schlechthin unmöglich, und deshalb kann der Mensch nur von Gott gerechtfertigt werden. Diese Rechtfertigung geschieht nicht dadurch, dass die Unschuld des Menschen erwiesen wird, sondern dadurch, dass Gott den an ihm schuldig gewordenen Menschen in einem schöpferischen Gnadenakt die Sünde vergibt und das zerstörte Verhältnis zu ihm erneuert.
In der Bibel ist dieses Verständnis von Rechtfertigung vor allem in den Paulusbriefen entfaltet worden. Jesus Christus hat Rechtfertigung weniger gelehrt als vielmehr gelebt (siehe Lk 15,2: „Dieser nimmt die Sünder an“).Dieses Verständnis von Rechtfertigung konnte sich nur schwer in der kirchlichen Theologie- und Dogmengeschichte behaupten. Vielen Menschen war und ist es nicht eingängig.. In den ersten 15 Jahrhunderten war es vor allem der lateinische Kirchenvater Augustinus, der es auch gegen Widerspruch auf den Leuchter stellte. Durch die Reformation im 16. Jahrhundert wurde die Rechtfertigungslehre dann zu einem Hauptgegenstand theologischer Auseinandersetzungen.
Das evangelische Rechtfertigungsverständnis
In allen Gestalten der klassischen evangelischen Rechtfertigungslehre gelten drei Exklusivaussagen: Die Rechtfertigung des sündigen Menschen erfolgt allein um Christi willen, d. h. durch Anrechnung der Gerechtigkeit Christi, und nicht aufgrund menschlicher Leistungen. Sie geschieht allein aus Gnade und nicht aufgrund menschlicher Verdienste. Sie wird dem Menschen zuteil allein durch seinen Glauben und nicht aufgrund guter Werke.
Für Martin Luther war „der Artikel von der Rechtfertigung Meister und Fürst, Herrscher, Lenker und Richter über alle Arten von Lehre; er erhält und regiert jegliche kirchliche Lehre und richtet unser Gewissen vor Gott auf“ (WA 39 I, 205,2). Rechtfertigung verstand er einerseits als göttliche „Gerechterklärung“, somit als einen richterlichen Akt, anderseits aber auch als ein effektives „Gerechtmachen“ des Menschen durch Gott. Die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, ist also eine doppelte: einmal die fremde, dem Glaubenden zugeschriebene Gerechtigkeit Christi, und dann eine eigene seinshafte Gerechtigkeit des Glaubenden als Ursprung des neuen Gehorsams.
Philipp Melanchthon hat im Augsburger Bekenntnis Art. 4 vor allem betont, dass die Rechtfertigung durch Glauben an den stellvertretenden Sühnetod Christi erlangt wird. Es widerspreche der Rechtfertigungslehre, sagt er in Art. 28, wenn Bischöfe Ordnungen machen, die die Gläubigen im Gewissen binden sollen und deren Verletzung als Sünde betrachtet wird. Luther selbst hat vor allem erklärt, das Verständnis der Messe als Opfer für unsere Sünden widerspreche der Rechtfertigung durch den Kreuzestod Christi.
Nach Johannes Calvin, dem Gründervater der evangelisch-reformierten Kirchen, werden Menschen durch eine Neuschöpfung von der Sünde erlöst. In dieser Neuschöpfung beschlossen sind Rechtfertigung und Heiligung. Rechtfertigung versteht Calvin als Annahme des Sünders durch Gott in Gnaden, Heiligung als lebenslangen Prozess des Sterbens und Lebendiggemacht-Werdens mit Christus.
Die 39 Artikel der Kirche von England aus dem Jahr 1571 zeigen hinsichtlich der Rechtfertigungslehre eine weitgehende Übereinstimmung mit Luther. Das 1646 erstellte Glaubensbekenntnis von Westminster ist stärker calvinistisch geprägt. Die ältesten Baptistengemeinden in England lehrten weitgehend übereinstimmend mit dem Westminster-Bekenntnis. Für die Methodisten wurde eine von John Wesley gekürzte Fassung der 39 Artikel maßgeblich, in der die anglikanische Rechtfertigungslehre erhalten blieb – einschließlich der Lehre von der vorlaufenden Gnade, die den Menschen zu einem guten Willen verhilft. Eigene Schwerpunkte legten die Methodisten darauf, die Rechtfertigung als Wiedergeburt und die der Rechtfertigung folgende Heiligung als Wiedererlangung der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit zu verstehen.
Im 18. Jahrhundert brach die evangelische Aufklärungstheologie allerdings inhaltlich vollständig mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre: Man erklärte die Heiligung (verstanden als schrittweise moralische Selbstvervollkommnung des Menschen) zur Bedingung für die Rechtfertigung. Noch der führende Vertreter der liberalen Theologie in der Kaiserzeit, Adolf Harnack, rechnete den Begriff der Rechtfertigung nicht zum Wesentlichen im Christentum, sondern meinte, die mit ihm gemeinte Sache sei der „Zusammenschluß der Seele mit Gott in Vertrauen und kindlicher Ehrfurcht“ (Das Wesen des Christentums, 1900, Gütersloh 2. Aufl. 1985, 171). Nach dem Zusammenbruch der liberalen Theologie am Ende des 1. Weltkriegs wagten junge Theologen einen Neuaufbruch, auch in der Rechtfertigungslehre. Für den reformierten Theologen Karl Barth vollzog sich des Menschen Rechtfertigung faktisch im Tod Jesu Christi und offenbarte sich in seiner Auferstehung. Für den Lutheraner Paul Althaus vollzieht sich Rechtfertigung gegenwärtig in der Dialektik von Gesetz und Evangelium, d.h. von Gericht und Gnade Gottes.
Die katholische Rechtfertigungslehre
Die römisch-katholische Kirche hat ihr Rechtfertigungsverständnis erstmals und grundlegend auf dem Konzil von Trient (1545-1563) festgelegt. Dem zufolge besteht Rechtfertigung in der Wiedergeburt durch die Taufe , durch die dem Sünder eine neue, seinshafte Gerechtigkeit als Ermöglichung des neuen Gehorsams mitgeteilt wird. Die Rechtfertigung ist also wesentlich Heiligung, und das Leben in der Heiligung wird als Zuwachs an Gerechtigkeit verstanden. Die Frucht der Rechtfertigung ist das ewige Leben, und zwar sowohl als Gnade wie auch als Lohn für Verdienste. An den Reformatoren wird bemängelt, die ethischen Konsequenzen der Rechtfertigung kämen bei ihnen zu kurz. Auf die Rechtfertigung in der Taufe muss man laut den Konzilserklärungen vorbereitet werden, weil der Mensch in freier Zustimmung und Mitwirkung an seiner Rechtfertigung beteiligt ist. Das Konzil lehrt außerdem: Nicht durch den Glauben allein, sondern nur in Verbindung mit Hoffnung und Liebe wird der Mensch gerechtfertigt. Glaube wird hier als Fürwahrhalten der Offenbarung Gottes verstanden. Das reformatorische Glaubensverständnis (Vertrauen auf Gottes Verheißung) halten die Konzilsväter für falsche Sicherheit und Selbstüberschätzung des Gläubigen.
Die durch die Reformation aufgeworfenen Fragen zur Rechtfertigung beschäftigten die römisch-katholische Kirche zum Teil nach dem Trienter Konzil weiter, nur dass jetzt der Begriff der Gnade den der Rechtfertigung verdrängte. Im späten 16. Jahrhundert kam es innerkatholisch zu einer großen Debatte über das Verhältnis der göttlichen Gnadenwirksamkeit zur menschlichen Willensfreiheit. Die thomistische Richtung legte den Schwerpunkt auf die Gnade, die jesuitische auf die Freiheit. Eine lehramtliche Entscheidung zu dieser Frage erging nicht. Der Begriff Rechtfertigung wurde in der römisch-katholischen Kirche seit den 1950er Jahren als Folge des Dialogs mit evangelischer Theologie und Kirche wieder wichtig . Dieser Dialog war innerkatholisch dadurch vorbereitet, dass man Gnade nun als personale Begegnung zwischen Gott und Mensch (und nicht als „Ding“) verstand.
Die altkatholischen Kirchen , die sich 1872 von der Leitung des römischen Papstes lösten, verbinden in ihrer Rechtfertigungslehre Elemente der traditionellen katholischen und der reformatorischen Theologie. Rechtfertigung geschieht für sie punktuell, Heiligung dagegen kontinuierlich. Gute Werke sind Auswirkungen der Heiligung, begründen aber keine Verdienste vor Gott.
Ökumenischer Grundkonsens
Nachdem in der Reformationszeit Versuche, eine Lehrübereinkunft zur Rechtfertigung zwischen den evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche zu erreichen, gescheitert waren, wurde der Gesprächsfaden erst nach 1945 wieder aufgenommen. Zunächst entstanden vergleichende Untersuchungen einzelner Theologen auf beiden Seiten, die zwischen der katholischen und der evangelischen Rechtfertigungslehre keine grundsätzlichen Differenzen feststellen konnten. Nach 1980 bestimmten nicht mehr nur die Arbeiten einzelner Theologen das Gespräch, sondern die Berichte von kirchlich beauftragten Dialogkommissionen. Von deren Erträgen ermutigt, entwarf der Rat des Lutherischen Weltbundes 1995 in Zusammenarbeit mit dem Päpstlichen Einheitsrat (jetzt: Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen) unter der Überschrift „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER)“ ein zusammenfassendes Dokument. Es ermöglichte den evangelisch-lutherischen Kirchen weltweit und der römisch-katholischen Kirche zu erklären, ihre gegenseitigen Lehrverurteilungen hinsichtlich der Rechtfertigungslehre träfen die Gegenseite nicht mehr. Die GER stellt die Gemeinsamkeit im Verständnis der Rechtfertigung ausführlich im Sinne eines differenzierten Konsenses dar und will zeigen, dass die nach wie vor „unterschiedlichen Entfaltungen in den Einzelaussagen“ mit dem Konsens in den Grundwahrheiten „vereinbar“ seien (GER 14). Die Rechtfertigungslehre sei „ein unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will“ (GER 18). Nachdem die GER auf evangelischer wie katholischer Seite einigen Widerspruch auslöste, versuchte die „Gemeinsame Offizielle Feststellung (GOF)“ vom Mai 1999 die strittigen Fragen zu klären. Gemeinsam wird bekannt, dass Christus selbst unsere Gerechtigkeit ist und dass wir von Gott „allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi“ (die GOF ergänzt: „allein durch Glauben“; Annex 2 C) angenommen werden (GER 15). So konnte die Erklärung in Augsburg am Reformationstag 1999 offiziell unterzeichnet werden. In den folgenden Jahren schlossen sich mehrere christliche Weltgemeinschaften der GER an, so dass sie zum am weitesten anerkannten Konsensdokument der modernen Ökumene wurde (Zustimmung des Weltrats Methodistischer Kirchen 2006, des Anglikanischen Konsultativrats 2016, der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen 2017).
In den orthodoxen Kirchen spielt der Begriff „Rechtfertigung“ eine geringere Rolle als in den anderen Kirchen. Im Vordergrund der Erlösungslehre steht dort die Vorstellung von der ‚Theosis‘ (Vergöttlichung).
Uwe Swarat
Literatur
Jüngel, Eberhard: Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 62011.
Maurer, Ernstpeter: Rechtfertigung. Konfessionstrennend oder konfessionsverbindend? (Ökumenische Studienhefte 8), Göttingen 1998.
Pilnei, Oliver / Rothkegel, Martin (Hrsg.): Aus Glauben gerecht. Weltweite Wirkung und ökumenische Rezeption der reformatorischen Rechtfertigungslehre, Leipzig 2017.
Swarat, Uwe / Oeldemann, Johannes / Heller, Dagmar (Hrsg.): Von Gott angenommen – in Christus verwandelt. Die Rechtfertigungslehre im multilateralen ökumenischen Dialog (Beiheft zur Ökumenischen Rundschau Nr. 78), Frankfurt am Main 2006.
Thönissen, Wolfgang: Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit? Das ökumenische Ringen um die Rechtfertigung, Paderborn 2016.