Priestertum aller Getauften

Biblischer Hintergrund

Im Ersten Petrusbrief werden Christusgläubige als priesterliches Volk angesprochen (1 Petr 2,5.9; ähnlich Offb 1,6; 5,10; 20,6). Diese Rede wurzelt in Exodus 19,3-6: „Mose stieg zu Gott hinauf. Da rief ihm JHWH vom Berg her zu: Das sollst du dem Haus Jakob sagen und den Israeliten verkünden: Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch auf Geiersflügeln getragen und zu mir gebracht habe. Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören. Das sind die Worte, die du den Israeliten mitteilen sollst“ (Ex 19,3-6, nach EÜ 2016). Die Befreiung aus Ägypten ist Grundlage für den Bund, durch den Israel zu Gottes „Eigentum“ wird. Dabei ist JHWH nicht bloß eine Kollektivgottheit, die neben den Gottheiten anderer Kollektive steht; JHWH gehört vielmehr die „ganze Erde“. Durch den Bund mit JHWH unterscheidet sich Israel deshalb von den anderen Völkern. Wie ein Priester eine Brücke zwischen einer Gottheit und den Menschen baut, soll Israel als Ganzes zum Brückenbauer zwischen JHWH und den Völkern werden – ein „Königreich von Priestern“ und ein „heiliges Volk“.

In diesen Bund ist nach Überzeugung des Ersten Petrusbriefes (und der Apokalypse) die christusgläubige Gemeinschaft hineingenommen, die neben Angehörigen des jüdischen Volkes auch Menschen anderer Nationen einschließt. Letztere kommen durch die Taufe  zu Israel hinzu, wenn auch über sie gesagt wird: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat“ (1 Petr 2,9, EÜ 2016). Dabei heißt es nicht, dass nichtgetaufte Angehörige des jüdischen Volkes nunmehr ihres Priestertums beraubt wären. Gegen diese antijüdische Tradition ist das „Priestertum aller Getauften“ entschieden abzugrenzen. Ein breiter ökumenischer Konsens heutiger christlicher Theologie bekennt sich zur bleibenden Erwählung Israels.


Das Priestertum aller Getauften in den Kirchen der Reformation

Während der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung entstand in der Christenheit – im Verlauf eines komplizierten und lokal ungleichzeitigen Prozesses – eine stabile Ämterstruktur aus Bischof  (epískopos, „Aufseher“), Priester (presbýteros, „Ältester“) und Diakon  bzw. Diakonin (diákonos, „Diener“ bzw. diákona, „Dienerin“; dass es in der Antike Diakoninnen als kirchliche Amtsträgerinnen gab, wird allerdings zum Teil bestritten). Obwohl das griechische Wort presbýteros ursprünglich das Mitglied eines Kollegiums von Verantwortlichen bezeichnete und nicht den Priester im heutigen Sinn (griechisch hiereús), schrieb man den presbýteroi und epískopoi bald die (im heutigen Sinn) priesterliche Funktion zu, zwischen Gott und Menschen zu vermitteln. Das Motiv eines Priestertums hingegen, an dem alle Getauften teilhaben, wurde zwar theologisch diskutiert – oft auch mit Bezug auf den Hebräerbrief, der Jesus Christus als Hohepriester bezeichnet, woran man den Gedanken anschließen konnte, alle Glieder der Kirche partizipierten an Christus und seinem Priestertum. In der Breite jedoch spielten solche Ideen kaum eine Rolle. 

Das änderte sich im westlichen Christentum durch die Reformation. Martin Luther formulierte 1520 vor dem Hintergrund seiner Kritik an der kirchlichen Hierarchie und insbesondere am römischen Papst : „Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht einem jeglichen geziemt, solch ein Amt auszuüben. Denn weil alle gleichmäßig Priester sind, darf sich niemand selbst hervortun und sich unterwinden, ohne unser Bewilligen und Erwählen das zu tun, wozu wir alle gleiche Gewalt haben. Denn was allgemein ist, kann niemand ohne der Gemeinde Willen und Befehl an sich nehmen“ (An den christlichen Adel deutscher Nation, WA 6, 409). Die ständische Ordnung seiner Zeit stellt Luther mit dieser Berufung auf das Priestertum aller Getauften ausdrücklich nicht in Frage. Auch ein gemeindlicher Verkündigungs- und Leitungsdienst ist in Luthers Konzeption schon integriert: Gerade weil alle die gleiche Vollmacht zum Dienst an Wort und Sakrament  besitzen, darf sich niemand „selbst hervortun“, es sei denn, die Gemeinde beruft, um der nötigen Ordnung willen, eine geeignete Person für diese Aufgabe. Ob sich das ordinierte  Amt damit ganz aus dem allgemeinen Priestertum herleite oder auch von einer göttlichen Stiftung des Amtes gesprochen werden könne, ist innerhalb des Luthertums umstritten. Während viele lutherische Kirchen zudem die Einheit des (Pfarr-)Amtes herausstellen, gibt es auch lutherische Kirchen, die am historischen Episkopat  festgehalten bzw. ihn neu zu schätzen begonnen haben und eine episkopale, presbyterale  und diakonale Ausdifferenzierung des kirchlichen Amtes kennen.

Die reformierte Tradition greift den Ausdruck „Priestertum aller Getauften“ nur selten auf; stattdessen spricht sie von der Teilhabe aller Glieder der Gemeinde an der Salbung Christi (vgl. Heidelberger Katechismus, Nr. 31f.). Einen besonderen Akzent setzt Jean Calvin mit seiner Vierämterlehre, nach der Gott für jede Gemeinde die Ämter des Pastors, des Lehrers, des Propheten und des Diakons geschaffen habe (wobei Calvin Pastor und Lehrer gelegentlich zusammenfasst). Zugleich bezieht Calvin noch deutlicher als Luther das Amt zurück auf den Auftrag der Gemeinde.

Darüber hinaus haben radikalere reformatorische Bewegungen aus dem Priestertum aller Getauften auch in der Praxis egalitäre Konsequenzen gezogen – kirchlich wie politisch. Luther denunzierte diese Gruppen als „Schwärmer“. Gegenstand von Streitigkeiten wurde zudem die Taufe selbst: Setzt diese nicht den freiwilligen Entschluss einer mündigen Person voraus? Kann die Kindertaufe als vollgültige Taufe angesehen werden? Diese Differenzpunkte spielten auch nach der Reformationszeit immer wieder eine Rolle, wo – oft aus dem Widerspruch und Widerstand gegen protestantisches Staats- und Volkskirchentum  – evangelische Freiwilligkeitskirchen entstanden. Heutige evangelische Freikirchen vertreten unterschiedliche Positionen zur Frage der Kindertaufe und zur Stellung von Menschen, die einen verkündenden Dienst oder ein kirchliches Amt wahrnehmen. Gemeinsam ist den evangelischen Freikirchen, dass sie deutlicher als andere Kirchen das Priestertum aller Getauften mit der Eigenverantwortlichkeit und Gleichheit aller Gemeindemitglieder verbinden.


Das Priestertum aller Getauften im ökumenischen Gespräch

Die orientalisch-orthodoxen und orthodoxen Kirchen wurden von der westlichen Auseinandersetzung um das Priestertum aller Getauften wenig berührt. Sie gehen – wie auch die römisch-katholische Tradition – davon aus, dass 1 Petrus 2,9 allen Gläubigen eine Verantwortung für das Leben und die Sichtbarkeit des Evangeliums überträgt, ohne dass daraus ein Widerspruch zum besonderen liturgischen, sakramentalen und leitenden Auftrag des geweihten Priestertums und Episkopats abzuleiten sei. Auch im Anglikanismus  gibt es diese Auffassung – neben anderen, die stärker an reformatorisches Gedankengut anknüpfen. Im Altkatholizismus vertritt man gleichfalls eine Komplementarität des gemeinsamen und besonderen Priestertums, die hier freilich auch konkret durch bischöflich-synodale Kirchenverfassungen zum Ausdruck kommen soll, in denen Laien Mitbestimmungsrechte haben (wie in unterschiedlicher Ausformung etwa auch in den anglikanischen Kirchen).

Nachdem die römisch-katholische  Kirche über lange Zeit in Abgrenzung zur Reformation die Bedeutung des Weihepriestertums hervorgehoben hatte, äußerte sie sich in der Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“ (1964) des Zweiten Vatikanischen Konzils erstmals ausführlich zum Priestertum aller Getauften. Dort heißt es: „Der Apostolat der Laien ist Teilnahme an der Heilssendung der Kirche selbst. Zu diesem Apostolat werden alle vom Herrn selbst durch Taufe und Firmung bestimmt“ (Lumen Gentium, Nr. 33). Der Text hält aber auch fest: Das besondere Priestertum unterscheide sich vom gemeinsamen Priestertum der Gläubigen „dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach“. Zugleich wird die Komplementarität von gemeinsamem und besonderem Priestertum betont; sie seien „einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil. Der Amtspriester nämlich bildet kraft seiner heiligen Gewalt, die er innehat, das priesterliche Volk heran und leitet es; er vollzieht in der Person Christi das eucharistische  Opfer und bringt es im Namen des ganzen Volkes Gott dar; die Gläubigen hingegen wirken kraft ihres königlichen Priestertums an der eucharistischen Darbringung mit und üben ihr Priestertum aus im Empfang der Sakramente, im Gebet, in der Danksagung, im Zeugnis eines heiligen Lebens, durch Selbstverleugnung und tätige Liebe“ (Lumen Gentium, Nr. 10).

Ökumenisch konfliktträchtig bleibt vor allem die Formulierung, nach der sich das besondere vom gemeinsamen Priestertum „dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach“ unterscheide. Nach einer in der römisch-katholischen Theologie weithin vertretenen Interpretation wird „auf diese Weise die Besonderheit des einigenden, versöhnenden, versammelnden, verbindenden Dienstes der Ordinierten zum Ausdruck gebracht […]. Die ontologische Eigenart – das heißt, die seinem Wesen gemäße Eigenart – des sakramentalen Amtes ist es, Dienst am gemeinsamen Dienst der Verkündigung des Evangeliums zu sein“ (Dorothea Sattler, in: Priestertum aller Getauften, S. 14). Womöglich ist auf Grundlage dieser Deutung ein differenzierender Konsens denkbar, der historisch gewachsene Unterschiede nicht nivelliert, aber ihren kirchentrennenden Charakter überwindet.

Andreas Krebs


Literatur

  • Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (Hg.): Priestertum aller Getauften. Positionen der Mitgliedskirchen der ACK, Frankfurt a.M. 2017.
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