Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK)

Gegenwärtige Situation

Die SELK ist eine reformatorische Kirche altkonfessioneller Prägung. Sie versteht sich als lutherische Konfessionskirche.

Der als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfassten SELK gehören in Deutschland (Stand Ende 2016) 33.474 Gemeindeglieder in 174 Gemeinden bzw. 111 Pfarrbezirken an. Jede Gemeinde gehört wiederum einem Kirchenbezirk an, der von einem Superintendenten geleitet wird. Die Gesamtkirche ist in vier Kirchenregionen gegliedert, denen je ein Propst vorsteht. Sitz der Kirchenleitung ist Hannover. Leitender Bischof der SELK ist gegenwärtig (2022) Hans-Jörg Voigt D.D..


Entstehung und Geschichte

Im Zuge der Reformationen des 15. und vor allem des 16. Jahrhunderts konsolidierten sich verschiedene Strömungen auf unterschiedliche Weise: Der sog. „linke Flügel der Reformation“, also die sehr unterschiedlichen Bewegungen von Täufern und Spiritualisten, konnte im Unterschied zur lutherischen und reformierten Tradition in der Regel keine überregionalen (großkirchlichen) Strukturen entwickeln.
Die entstehende lutherische Kirche durchlief ab Mitte des 16. Jahrhunderts eine Phase der Bekenntnisbildung: Es ging um Entscheidungen im Blick auf interne theologische Streitfragen, aber auch um Abgrenzung von den anderen reformatorischen Traditionen, wie auch von den sog. „Altgläubigen“, also der römisch-katholischen Kirche, nachdem klar geworden war, dass es kein Zurück mehr gab zu einer Einheit der lateinischen Kirche.
Die Bekenntnisbildung im Luthertum fand ihren Abschluss und Ausdruck im Konkordienbuch von 1580, das zum einen die schon vor, aber vor allem nach Luthers Tod aufgebrochenen innerlutherischen Streitigkeiten überwinden und zum andern das rechte christliche Bekenntnis formulieren sollte. 
Die entstehenden reformatorischen Kirchen beanspruchten selbstverständlich, als wahrhaft christliche Kirche in Kontinuität mit dem apostolischen Ursprung der Kirche zu stehen resp. diesen wiedergestellt zu haben - also nicht von Martin Luther in Wittenberg, von Huldreich Zwingli in Zürich oder von Johannes Calvin in Genf gegründet worden zu sein. Grundlegender Bezugspunkt blieben darum stets auch die altkirchlichen Bekenntnisse
Das sich auf der Grundlage des Augsburger Religionsfriedens von 1555 etablierende „landesherrliche Kirchenregiment“ (später auf die Formel gebracht „cuius regio, eius religio“: die Untertanen mussten sich zur Konfession ihres Fürsten bekennen oder diese übernehmen oder aber auswandern – wozu sie dann allerdings auch berechtigt waren) prägte in den folgenden Jahrhunderten die konfessionelle Landschaft in einem politisch zersplitterten Deutschland. In diesen Frieden waren die katholische und die lutherische (erst ab 1648 auch die reformierte) Kirche eingeschlossen. 
Oberhaupt der „Landeskirche“ in dem jeweiligen Territorium war der dort regierende Fürst (landesherrlicher Summepiskopat). Dieses ursprünglich als Notregiment gedachte Konstrukt (die beiden „Regimente“, die Luther streng unterschied, waren in einer Hand vereint, nämlich in der des regierenden Fürsten), das Deutschland im Grunde bis 1919 prägte, sollte fernerhin zum Initial der Entstehung altkonfessioneller Gemeinden und Kirchen werden.
 


Zur Entstehung des Konflikts

Die Konfessionskriege (vor allem) des 17. Jahrhunderts hinterließen in vielen Menschen Fragen im Blick auf den Umgang mit sowie die Bedeutung von konfessionellen Unterschieden. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, vor allem die sich entwickelnde historisch-kritische Bibelwissenschaft, führte zu einer weiteren Relativierung der konfessionellen Differenzen. Die Inhalte des Bekenntnisses wie auch die Grenzen der Konfessionen wurden zunehmend weniger als heilsrelevant angesehen und verstanden. 
In Preußen bestand zudem die Sondersituation, dass seit der Konversion von Kurfürst Johann Sigismund zur reformierten Kirche im Jahr 1613 zwar der Hof zum reformierten Bekenntnis gehörte, aber (in Abweichung von den Bestimmungen von 1555) die Bevölkerung lutherisch geblieben war. Zudem kamen in der Folge des Wiener Kongresses (1815) große Gebiete mit katholischer Bevölkerung unter preußische Herrschaft.
Dies sind wichtige Hintergründe des Anliegens von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, innerevangelisch konfessionelle Einheitlichkeit dadurch herzustellen, indem er die Union der lutherischen und der reformierten Kirche zu einer „evangelisch-christlichen“ Kirche forcierte. Zu solchen Unionen war es bereits vorher gekommen, u.a. 1802 in Mainz (freilich in einem anderen Kontext).
Mit einer Kabinettsordre vom 27. September 1817 - Anlass war der 300. Jahrestag von Luthers Thesenanschlag - rief Friedrich Wilhelm zu gemeinsamen Abendmahlsfeiern auf, da die protestantischen Kirchen, konkret die lutherische und die reformierte, „nur noch durch äußere Unterschiede getrennt“ seien. Mittels einer Agende, also einer einheitlichen Gottesdienstordnung für die evangelische Kirche in Preußen (1821), beabsichtigte der König auch eine liturgische Union von Lutherischen und Reformierten – die Folge war der Agendenstreit (1822-1834).
Anfänglich wurde in Preußen für den freiwilligen Beitritt zur Union geworben. Ab etwa 1830 folgten zunehmend Zwangsmaßnahmen (die Obrigkeit schickte Militär, die Kirchentüren aufbrachen; sich der Union widersetzende Pfarrer wurden verhaftet), denn nicht wenige lutherische Gemeinden und Pfarrer weigerten sich, der Union beizutreten bzw. die Unionsagende zu übernehmen, da sie durchaus nicht der Auffassung ihres Königs waren, die Unterschiede zwischen den evangelischen Kirchen seien nurmehr ‚äußerlicher‘ Natur. In späteren Jahren kam es in Baden, Hessen, Hannover und Sachsen zu vergleichbaren Entwicklungen.
Jene Unionen wurden seinerzeit von den meisten evangelischen Gemeinden und Geistlichen beider Konfessionen angenommen, die erstrebte protestantische Einheit stellte sich durch sie jedoch nicht ein: in der Folge gab es nun auch unierte Kirchen und Gemeinden, neben den weiterhin bestehenden lutherischer und reformierter Konfession
In solchen „Unionen von oben“ (es gab durchaus auch „Unionen von unten“ - etwa die Hanauer Union von 1818, zuweilen auch „Buchbinderunion“ genannt, da man schlicht Luthers Kleinen Katechismus mit den Heidelberger Katechismus zusammenband) zeigte sich die Janusgesichtigkeit einer im 16. Jahrhundert als Notordnung entstandenen, sich über Jahrhunderte perpetuierenden Aufsicht der Obrigkeit über die Kirche, die von Anfang an in starker Spannung stand zu Luthers Unterscheidung der zwei Regimente (vgl. Luthers Schrift, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11, 229ff). 
Aufgrund der staatlichen Zwangsmaßnahmen in Preußen vor allem während der 1830er Jahre wanderten viele lutherische Christen, gar manche Gemeinden aus, meist nach Nordamerika oder Australien.
Wo in Deutschland Kirchenunionen gegründet worden waren, konstituierten sich in der Folge selbständige altlutherische Gemeinden und Minderheits-Kirchen. Die meisten schlossen sich 1972 zur SELK zusammen, der schließlich 1991 auch die Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche in der früheren DDR beitrat.
 


Eine landeskirchliche Perspektive

Die Predigt des damaligen Leiters der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, Franz-Reinhold Hildebrandt, aus dem Jahr 1967 (150. Jahrestag der Union) mit seiner Bitte an die altlutherischen Geschwister um Vergebung für das seinerzeitige Unrecht öffnete ein neues Kapitel zwischen den Landeskirchen und den Altlutheranern. 
Selbst wenn man aus heutiger Sicht dem Preußenkönig konzediert, dass er in der an sich begrüßenswerten Absicht handelte, innerevangelische Differenzen zu überwinden, so ist eine solche Kabinettsordre (gerade auch angesichts der in ihr ausgedrückten inhaltlichen Vorannahmen) ein völlig ungeeigneter Versuch, kirchliche Einheit herzustellen. Die sich anschließenden Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der Union sind zutiefst beschämende Ereignisse, nicht allein, weil es sich um flagrante Verstöße gegen die Religionsfreiheit handelte, sondern auch, weil solche Akte der Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses massiven Schaden zufügten. 
Diese Geschichte sollte weiterhin im Sinne eines „Healing of memories“ gemeinsam in den Blick genommen werden. Dies ist erfolgt durch einen gottesdienstlichen Akt am Buß- und Bettag Jahr 2017, bei dem die SELK und die „Union evangelischer Kirchen“ (UEK) – ihr gehören die nicht-lutherischen Kirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an ein gemeinsames Dokument unterzeichneten.
 


Glaubensinhalte

Lehre und Bekenntnis

Die SELK steht in der Tradition der von Martin Luther angestoßenen und sich auf ihn beziehenden Reformation der lateinischen Kirche.
Unter Bezug auf Jesus Christus als „Mittelpunkt der Kirche“ kennzeichnen die SELK u.a. die grundlegende Bedeutung der Rechtfertigungsbotschaft als dem „Glaubensartikel, mit dem die Kirche steht und fällt“ (‚articulus stantis et cadentis ecclesiae‘), der vier reformatorischen Exklusivpartikel („soli“) - solus Christus, sola scriptura, sola gratia, sola fide (allein Christus ist unser Heil, offenbart allein durch die Hl. Schrift, empfangen allein aus Gnade, geschenkt allein durch den Glauben) und die theologische Leitdifferenzierung des Wortes Gottes als ‚Gesetz und Evangelium‘.
Die geltenden kirchlichen Bekenntnisse werden als die Heilige Schrift auslegende und mit ihr übereinstimmende Zusammenfassungen der Heilsbotschaft betrachtet. 
Es sind dies 
die drei altkirchlichen Bekenntnisse (Nicänoconstantinopolitanum, Apostolicum und Athanasianum), 
sowie die sieben Bekenntnisse der lutherischen Reformation, wie sie im Konkordienbuch von 1580 zusammengestellt sind: 
die Confessio Augustana (CA) von 1530 - die ‚invariata‘, d.h. die textlich ungeänderte Ursprungsform (nicht Melanchthons ‚CA variata‘ von 1540!), nebst der 
Apologie zur CA, 
Luthers Großer und 
Kleiner Katechismus
die Schmalkaldischen Artikel, 
Melanchthons ‚Tractatus de potestate et primatu Papae‘ und 
die Konkordienformel.

Quia oder quatenus? – zur Frage der Bekenntnishermeneutik

Im Unterschied etwa zu den lutherischen Landeskirchen in der EKD stehen die Bekenntnisse in der SELK in Geltung, nicht lediglich „insofern“ (quatenus), sondern - unter Bezug auf die Konkordienformel – „weil“ (quia) sie mit der Heiligen Schrift übereinstimmen.
Aus diesem Grund ist für die SELK die Einheit im Bekenntnis, neben der sich auf die Heilige Schrift gründenden Lehre der Kirche, zwingende Voraussetzung für Kirchengemeinschaft, da in einer Kirche nicht zugleich Bekenntnisse gelten können, die einander widersprechen, wenn vielleicht auch nur in bestimmten Punkten. Einer ‚Gemeinschaft bekenntnisverschiedener Kirchen‘ (wie der GEKE, der „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ – früher „Leuenberger Kirchengemeinschaft“) kann die SELK darum nicht angehören. Ähnliches gilt im Blick auf die EKD, da sich diese nicht auf ein einheitliches, gemeinsames (lutherisches) Bekenntnis gründet.

Kirche, Amt, Sakramente

Die Kirchenordnung der SELK umfasst synodale, konsistoriale und episkopale Elemente. Auch Nichtordinierte haben an der Leitung der Kirche Anteil. Die SELK ordiniert keine Frauen, sondern ausschließlich Männer zum Pfarramt (Theologinnen arbeiten in der SELK im Gemeindedienst, z.B. als Pastoralreferentin) – innerhalb der SELK gibt es hierzu schon seit längerem eine durchaus kontroverse Debatte.
Der Ordination wird in der SELK eine hohe theologische Bedeutung zuerkannt – das Amt der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung wird dezidiert nicht als Ableitung oder Funktion des Allgemeinen Priestertums verstanden, sondern (in Anlehnung an Confessio Augustana 5) als der Kirche von Gott eingestiftet.
Als reformatorische Kirche erkennt die SELK, mit den meisten anderen evangelischen Kirchen, die Heilige Taufe und das Heilige Abendmahl als von Christus eingesetzte Sakramente an. Zusätzlich wird werden auch Beichte und Absolution als Sakrament in einem weiteren Sinne angesehen. 
Die SELK hat 2007 die Magdeburger Tauferklärung mit-unterzeichnet und erkennt damit jede rite (mit Wasser und der trinitarischen Formel) vollzogene Taufe an. Sie praktiziert nicht das „offene Abendmahl“ – die Teilnahme setzt im Grundsatz voraus, dass man der SELK oder einer mit ihr in Gemeinschaft stehenden Kirche angehört und zum Heiligen Abendmahl zugelassen ist. Ausnahmen hiervon liegen im seelsorgerlichen Ermessen des Pfarrers.
 


Ethik

Grundlage ihrer ethischen Orientierung ist für die SELK die Heilige Schrift. Einen grundlegenden hermeneutischen Leitfaden stellt dabei im Blick auf die Sozialethik Luthers Lehre von den zwei Reichen bzw. zwei Regimenten dar.
Die SELK nimmt in den gegenwärtigen gesellschaftlichen und (bio)ethischen Debatten überwiegend Haltungen ein, die im Diskurs als ‚konservativ‘ apostrophiert werden. So lehnt sie etwa Segnungen oder Trauungen gleichgeschlechtlicher Paare ab.
 


Kirchengemeinschaft und Ökumene

Kirchliche Einheit bedeutet für die SELK nicht Einförmigkeit. In nicht heilsnotwendigen Dingen und Fragen, den sog. „Adiaphora“ (gottesdienstlicher Ritus, liturgische Gewänder u.a.m.), sind Unterschiede möglich. 
Die SELK steht in Kirchengemeinschaft u.a. mit der Lutheran Church Missouri Synod (LCMS) in den USA, aber auch mit anderen lutherischen Konfessionskirchen weltweit. Die LCMS wurde im 19. Jahrhundert von lutherischen Christ*innen mitgegründet, die wegen der Unionen aus Deutschland ausgewandert waren. 
Die SELK ist Mitglied im „International Lutheran Council“ (ILC), nicht jedoch im Lutherischen Weltbund oder in der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (zu beiden gibt es jedoch Kontakte).
Seit den 1980-er Jahren ist sie Vollmitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK).

Jörg Bickelhaupt

gegengelesen von Werner Klän
 


Literatur

  • Informationen zur SELK vgl. deren Homepage: www.selk.de
  • Johannes Oeldemann (Hg.): Konfessionskunde Leipzig/Paderborn 2015, S. 284f.
     
Zurück