Kirchenverständnis

Begriffsdefinition

Kirche bezeichnet die zum Herrn Gehörigen (gr. kyriakós), also die in die Nachfolge Christi Berufenen (lat. ecclesia = die Herausgerufene). In diesem Beitrag soll die Lehre von der Kirche (= Ekklesiologie), d. h. zentrale Grundzüge des theologischen Verständnisses von Kirche, im Hinblick auf ökumenische Fragestellungen entfaltet werden. 

Da Kirche immer auch Sozialverband ist, müssen neben den Lehrfragen zudem kirchliche Strukturen und Handlungsformen wahrgenommen werden. Hier hilft ein dreifacher Kirchenbegriff: 1) Kirche als Gemeinschaft der Heiligen: Kirche wird von bekennenden Glaubensaussagen her beschrieben, die weder empirisch feststellbar sind noch einer bestimmten Struktur oder Praxis der Kirche zugeordnet werden können. 2) Kirche als Versammlung der Gläubigen: Jene kommen in den Blick, die sich erkennbar zu Gott in Beziehung setzen. Verkündigung und Sakramente, die dafür beauftragten Personen und festgelegten Orten sowie die kirchliche Praxis sind im Fokus dieser Blickrichtung. 3) Kirche als Organisation: Hier wird auf die Rechts- und Sozialgestalt der jeweiligen konkreten Kirche mit ihren Strukturen (Mitgliedschaftsregeln, Leitung, Kirchenrecht etc.) und ihrer Rolle in der Öffentlichkeit geschaut.

 


Darstellung der Situation

Die Kirche nach römisch-katholischem Verständnis

Für das Zweite Vatikanischen Konzil ist die Kirche „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Sie ist der Ort und das Mittel für das Heilshandeln Gottes in der Welt – jedoch nur wenn sie sich „in Christus“ befindet, der das eigentliche Sakrament Gottes ist. Um den Dienst am Volk Gottes und der Welt sachgemäß wahrnehmen zu können, ist die Kirche hierarchisch geordnet. Diese Verfasstheit zeigt sich im dreigliedrigen Amt (Bischof, Priester, Diakon) und an der Institution des Papstamtes.

Kirche ist kein nachträglicher Zusammenschluss einzelner Christinnen und Christen, sondern ein von Gott her vorgegebener Raum des Heils. Sie verwirklicht sich (lat. subsistit in) geschichtlich, d. h. hat ihre konkrete Existenzform, in der römisch-katholischen Kirche. In Bezug auf den dreifachen Kirchenbegriff heißt dies, dass eine enge Beziehung zwischen der Gemeinschaft der Heiligen (Ebene 1) und der bestimmten Organisationsgestalt (Ebene 3) hergestellt wird. 

Eine traditionelle katholische Theologie denkt die Kirche in ihrer konkreten Gestalt nicht in einem Plural unterschiedlicher Konfessionskirchen. Christinnen und Christen, die nicht der römisch-katholischen Kirche angehören, sind durch die Taufe der Ehre des Christennamens teilhaftig und sie  stehen „in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche“ (UR 3).  Zudem sind auch „außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und Wahrheit“ zu finden (LG 8).   

 

Die Kirche nach evangelischem Verständnis

Die aus der Reformation hervorgegangenen evangelischen Kirchen verstehen sich zuallererst als Geschöpf des Wortes Gottes. Entscheidend für eine evangelische Kirchenlehre ist, dass allein Jesus Christus bzw. der in ihm offenbare dreieine Gott Herr der Kirche ist, ihr immer vorgeordnet bleibt und sie erhält. Der Kern evangelischer Kirchenlehre wird im Augsburger Bekenntnis (1530) auf den Punkt gebracht: „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“ (Art. 7). Kirche ist sichtbar, wo die Glaubenden in ihrer Vergemeinschaftung durch und um die kirchlichen Grundvollzüge „Wort und      Sakrament“ gesammelt sind. Das ordinationsgebundene Amt steht nicht auf derselben Ebene, sondern ist diesen dienend zugeordnet und eingesetzt, um die Ausübung dieser beiden Heilsmittel, die die Kirche konstituieren, sicherzustellen. Lutheraner sprechen von dem einen Amt, welches gleichwohl funktional auszudifferenzieren ist. In der reformierten Tradition wird traditionell zwischen drei Ämtern (Pfarrer, Presbyter/Älteste, Diakone) unterschieden, die gemeinsam die Gemeinde leiten.

Die eine Kirche Jesu Christi lässt sich nicht einfach mit einer spezifischen, geschichtlichen Kirche in eins setzen, sondern kann in verschiedenen Konfessionskirchen gleichermaßen verwirklicht sein. Es wird insgesamt deutlich zwischen der Ebene 1 einerseits und den Ebenen 2 und 3 des Kirchenbegriffs andererseits unterschieden. 

Evangelische Freikirchen stimmen diesen Bestimmungen im Wesentlichen zu, wenngleich sie im Unterschied zu den lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen stärker die freie, persönliche Glaubensentscheidung für eine Gemeindeaufnahme und Kirchenmitgliedschaft betonen und damit auch eine stärkere Verpflichtung zu verbindlichem Engagement. Eine distanzierte Mitgliedschaft – wie in den Volkskirchen möglich – ist nicht vorgesehen. Die überwiegend kongregationalistisch verfassten Freikirchen zeichnen sich meist durch eine Betonung der rechtlichen und organisatorischen Unabhängigkeit vom Staat aus.

 

Die Kirche nach orthodoxem Verständnis

In der orthodoxen Kirchenlehre ist die Trinität Urbild der Kirche. Kirche ist Mysterium, das mit dem Mysterium des dreieinen Gottes in Verbindung steht. Sie ist ihrem Wesen nach nicht primär eine menschliche, geschichtliche Größe, sondern die orthodoxe Kirche ist die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche des Glaubensbekenntnisses. 

Die eine orthodoxe Kirche besteht aus einzelnen, in ihrer Verwaltung voneinander unabhängigen orthodoxen Teil- bzw. Territorialkirchen, die untereinander in Gemeinschaft (koinonia) stehen. Aufgrund der Autonomie jeder Teilkirche ist für die Orthodoxie ein päpstlicher Primat nach römisch-katholischem Verständnis nicht denkbar. 

Kirche hat ihren Fokus auf der liturgisch-eucharistischen Feier (Ortho-doxie = rechter Lobpreis/Glaube). Sie ist primär die konkrete von einem Bischof oder seinem presbyterialen Stellvertreter geleitete Eucharistieversammlung, in deren Mitte Jesus Christus selbst gegenwärtig ist und die so Anteil an der Gemeinschaft hat, die der dreieine Gott in sich selbst ist. Kirche kann als fortgesetzte eucharistische Gemeinschaft verstanden werden. Man könnte also etwas holzschnittartig sagen, dass die konkrete liturgische Feier der versammelten Gläubigen (Ebene 2) mit der himmlischen Liturgie (Ebene 1) in eins gesetzt wird. 

 

Die Kirche nach dem Verständnis der Pfingstbewegung

In den pentekostalen (= pfingstlichen) Gemeinden kommt der Geisttaufe eine zentrale Rolle zu: „Sie lehren die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist und die Geistestaufe als Bevollmächtigung zum Zeugnis.“ (Präambel der Verfassung des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden). Erst die Erfahrung dieser zweiten Gnadengabe (neben der Taufe) ermöglicht das Christsein im vollen Sinne. Der Heilige Geist schenkt die Charismen der Heiligung, des Redens in unbekannter Sprache (Zungenreden = Glossolalie), der psychischen und physischen Heilung, der Wunder und der Prophetie. Diese dienen der Auferbauung der Gemeinde und der Bezeugung des Evangeliums in der Welt.

Auf Kirchenbildern des Neuen Testamentes aufbauend liegt der Fokus auf der lokalen Gemeinde als eine aus der Welt herausgerufene, verbindliche Gemeinschaft. Zugleich vertritt die Pfingstbewegung kein einheitliches Organisationsmodell. Mit dem oft zu beobachtenden Nachlassen des Enthusiasmus der Gründungszeit geht eine Tendenz zu festeren Strukturen einher. Einige „etablierte“ Pfingstkirchen sind mittlerweile weltweit organisiert.

 


Ökumenische Kontroversen und Annäherungen im ökumenischen Dialog

In der Bestimmung des Ursprungs der Kirche und ihrer Sendung herrscht heute große Gemeinsamkeit unter den Kirchen. Grund der Kirche ist die Erwählung Gottes. Mit der Taufe werden Menschen in den Leib Christi eingegliedert. Umstritten zwischen römisch-katholischer und evangelischer Theologie war lange Zeit das Verhältnis zwischen Gott und Kirche. J. A. Möhler konnte von der Kirche als „andauernde Fleischwerdung“ Christi sprechen. Reformatorische Theologie wandte sich entschieden gegen eine solche Identifikationsekklesiologie (von Christus und Kirche), wie sie noch im Ersten Vatikanischen Konzil zum Ausdruck kommt. Allein Christus, nicht der Kirche komme die Mittlerfunktion zwischen Gott und dem Menschen zu. Dank der Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils kann heute ökumenisch gemeinsam gesagt werden, dass die Kirche als Leib Christi Zeichen und Werkzeug der göttlichen Gnade ist und Zeugnis von dem einen Mittler Jesus Christus zu geben hat. Da der dreieine Gott der Herr der Kirche ist, verbietet sich jede Selbstbezogenheit der Kirche. Ihrem Auftrag wird die Kirche gerecht, wenn sie sich neben dem Dienst der Verkündigung (Martyria) und dem Dienst der gottesdienstlichen Feier (Leiturgia) auch in den Dienst am anderen (Diakonia) stellt. Diesbezüglich gab es viele Annäherungen im ökumenischen Dialog, die in der Studie der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRKDie Kirche: Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision“ gebündelt wurden.

 

Theologischer Dissens, der zum Teil nach wie vor kirchentrennenden Charakter hat, ergibt sich vor allem dort, wo es um die Gestalt und institutionelle Ausprägung der Kirche geht. Dies lässt sich an den vier im Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel genannten Kennzeichen der Kirche verdeutlichen:  

 

Katholizität

Die Kirche ist zu allen Menschen, Völkern und Kulturen zu allen Zeiten gesandt. Sie ist für alle Menschen offen und ihrem Wesen nach allumfassend. Dies kommt in dem griechischen Wort katholikós zum Ausdruck. In der evangelischen Tradition wird es mit „allgemein“ oder „christlich“ übersetzt, um die Verwechslung mit der Selbstbezeichnung einer Konfessionskirche auszuschließen.

Es gibt in der Römisch-katholischen Kirche eine Tendenz, die allgemeine/katholische Kirche von der Gesamtkirche her zu denken. Sie ist eine Gemeinschaft von Ortskirchen (verstanden als Diözesen, nicht Gemeinden). Dies kann dazu führen, dass die Ortskirche nur noch als untergeordnete Ableitung der Gesamtkirche aufgefasst wird. Auf evangelischer Seite wird eher von der Ortsgemeinde her gedacht. Hier besteht die Gefahr, dass Kirche nur als ein Nebeneinander von Einzelgemeinden verstanden und die theologische Reflexion über die Universalkirche vernachlässigt wird. Gerade in vielen Frei- oder Pfingstkirchen wird die Gemeinschaft der getauften Gläubigen an einem Ort als die relevante Gestalt von Kirche verstanden. Die Entwicklung von verbindlichen übergemeindlichen Strukturen, die die Autonomie der Ortsgemeinden gefährden könnten, wird vermieden. Der ökumenische Dialog hat jedoch zu einem erneuerten Bewusstsein geführt, dass sich die Katholizität der Kirche zugleich auf drei Ebenen vollzieht: Universalkirche, Partikularkirche/Ortskirche und Einzelgemeinde. So kommt es mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der Römisch-katholischen Kirche zu einer Rückbesinnung auf die altkirchliche Tradition der Ortskirchen und diese werden gegenüber einem römischen Zentralismus theologisch aufgewertet. Seit 1990 versteht sich der Lutherische Weltbund nicht nur als lose Vereinigung, sondern dezidiert als eine communio (Gemeinschaft) von Kirchen. Die ökumenischen Annäherungen kann man mit einem bekannten Schlagwort auf den Punkt zu bringen: Die konkrete Versammlung, die sich um Wort und Sakrament versammelt, ist ganz Kirche, aber nicht die ganze Kirche. In jedem Gottesdienst stehen die Feiernden in Verbindung mit der universalen Gemeinschaft der Kirche. Offen bleibt weiterhin, ob diese Gottesdienst feiernde Versammlung primär die um ihren Bischof versammelte Ortskirche (Katholizismus, Orthodoxie) oder die konkrete Einzelgemeinde (Lutheraner, Reformierte, Freikirchen) ist. 

 

Heiligkeit

Kirche ist die Gemeinschaft der Heiligen (communio sanctorum). Umstritten blieb unter den Konfessionen hingegen: Während die Reformatoren ihre Einsicht, dass der Mensch gerechtfertigt und sündig zugleich ist (simul iustus et peccator), auch auf die Kirche anwandten, wurde im Katholizismus und in der Orthodoxie meist die Überzeugung vertreten, dass die Kirche in ihrer Gesamtheit wesenhaft sündlos sei, auch wenn ihre einzelnen Glieder Sünder sein können. Das Zweite Vatikanische Konzil hat hier zu einer wichtigen Annäherung geführt, indem es festhält: Die Kirche „ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung“ (LG 8). Wird die Kirche selbst als Subjekt der Reinigungsbedürftigkeit beschrieben, lässt sich daraus folgern, dass sie auch Subjekt von Sünde und Schuld ist.

 

Apostolizität 

Apostolizität weist auf den Ursprung der Kirche hin und auf ihre Kontinuität mit diesem Ursprung durch die Zeiten hindurch. Sie ist „erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten“ (Eph 2,20). Einig sind sich die Konfessionen, dass die Kirche ihrem Ursprungszeugnis treu bleiben muss. Strittig ist hingegen, wie dies gewährleistet wird. Damit ist die Frage nach dem kirchlichen Amt angesprochen. Für die meisten Kirchen gehört ein besonderes, durch Weihe bzw. Ordination übertragenes Amt zu der Struktur der Kirche. Über die theologische Deutung, die Ausgestaltung und Funktionen des Amtes gibt es jedoch stark divergierende Überzeugungen, die bis heute zum Teil kirchentrennend sind. Es geht um Fragen wie nach dem Verhältnis von Amt und allgemeinem Priestertum aller Glaubenden, der Struktur und gegenseitigen Anerkennung der Ämter, der apostolischen Sukzession, dem Papstamt sowie der Frauenordination.

 

Einheit 

Die Kirche ist eine, d. h. sie ist der Anfang einer neuen, mit Gott versöhnten und untereinander geeinten Gemeinschaft. Die Spaltung der einen Kirche in verschiedene Konfessionskirchen, die untereinander nicht in voller Gemeinschaft stehen und nicht am Tisch des Herrn zusammenkommen können, ist ein Ärgernis, das dem Evangelium widerspricht. Die offene Frage unter den Konfessionen ist allerdings, wie diese Einheit gewährleistet wird. Geschieht dies durch ein besonderes Amt der Einheit, durch eine bestimmte Kirchenordnung, durch die gemeinsame Anerkennung von Lehrsätzen oder den gemeinsamen karitativen und missionarischen Dienst in der Welt? Gerungen wird auch um die Frage, wie sachgemäße Modelle der Einheit aussehen und wieviel Vielfalt und Differenz mit der Einheit der Kirche verträglich ist. 

                                                                                                                                                 Oliver Schuegraf

 


Literatur

Beinert, Wolfgang / Kühn, Ulrich: Ökumenische Dogmatik, Leipzig / Regensburg 2013, 415-631 (Traktat IX: Ekklesiologie). 

Friedrich, Martin: Kirche (Bensheimer Hefte 108), Göttingen 2008.

Kasper, Walter: Katholische Kirche, Freiburg i. Br. 22011.

Schuegraf, Oliver: Kirchenbilder – Kirchenverständnis, in: Michael Kappes / Ulrike Link-Wieczorek / Sabine Pemsel-Maier / Oliver Schuegraf (Hg.), Basiswissen Ökumene. Bd. 1: Ökumenische Entwicklungen – Brennpunkte – Praxis, Paderborn / Leipzig 2017, 201-236; Bd. 2: Arbeitsbuch mit Materialen, Paderborn / Leipzig 2017, 279-329.

Schuegraf, Oliver: Der einen Kirche Gestalt geben. Ekklesiologie in den Dokumenten der bilateralen Konsensökumene, Münster 2001.

 

 

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