Schrift und Tradition
Bedeutung und Begriffsbestimmung
Unter der Überschrift „Schrift und Tradition“ wird ökumenisch die Zuordnung unterschiedlicher Größen verhandelt, welche die Offenbarung bezeugen und bewahren: Die christlichen Konfessionen betonen alle, in wahrer Kontinuität zu ihrem apostolischen Ursprung zu stehen. Diesen sehen sie jedoch in unterschiedlichen Formen und Instanzen (sog. „Bezeugungsinstanzen“) gewahrt: So gehört in der römisch-katholischen Tradition das Lehramt zum Zusammenhang von „Schrift und Tradition“ und in den orthodoxen Traditionen die Liturgie. Die Zuordnung von Schrift und Tradition – und Lehramt und Liturgie – kennzeichnet also einen komplexen Zusammenhang zur Frage, wo und wie die Treue zur Offenbarung und zum Ursprung der Kirche gewahrt bleibt.
Mit dem Begriff „Schrift“ wird in der theologischen Tradition auf die biblischen Texte verwiesen. Mit der Bezeichnung der Texte als Schrift wird ihre besondere Bedeutung als kanonisierte Texte für die christliche Gemeinschaft in ihrer spezifischen Zusammenstellung herausgestellt.
Der Begriff „Tradition“ kann im Anschluss und in Erweiterung an die bei der Weltkonferenz der ÖRK-Kommission für Glauben und Kirchenverfassung 1963 entwickelte Terminologie in vier Dimensionen differenziert werden : Während der Begriff a) auf der inhaltlichen Ebene zur Beschreibung der in der Schrift bezeugten Offenbarungsinhalte eingeführt wurde (TRADITION), beschreibt er b) auf formaler Ebene den Prozess der – mündlichen und schriftlichen – Überlieferung (Tradition). Verbunden ist die Rede von der Tradition zudem mit c) der Vielfalt der Konkretionen dieser Überlieferungen etwa in Bekenntnistexten (Traditionen), sowie d) den pluralen Medien, in denen Tradition vermittelt wird und die Tradition produzieren. Auch die Schrift kann als ein solches Medium von Traditionen beschrieben werden, da in den biblischen Texten Traditionen übernommen und aktualisiert wurden.
Konfessionelle Positionen
Nach reformatorischem Verständnis gründet der Glaube in dem Wort Gottes, das in der Schrift bezeugt ist und in der Kirche verkündigt wird. Dieses erschließt der Geist Gottes den Glaubenden im Lesen und Hören auf die Schrift. Das Wort Gottes selbst kann daher nicht tradiert, sondern nur bezeugt werden. Luther beschreibt daher die Tradition allein im Sinn der menschlichen Tradition. Zugleich zeigt der Rückgriff auf die Schrift, dass die Reformatoren sich nicht als Neuerer, sondern als Erhalter der Ursprünge der Kirche verstanden. Darüber hinaus wirkte auch die Reformation selbst traditionsbildend: Die kirchlichen Bekenntnisse halten den kirchlichen Grundkonsens fest und fungieren als Rahmen der Verkündigung. Während die Schrift „alleinige Regel und Richtschnur [ist], nach der in gleicher Weise alle Lehren und Lehrer gerichtet werden“ (Konkordienformel), sind die Bekenntnisse nur sekundäre Norm. Diese sind veränderlich, wobei insbesondere die reformierte Tradition die Notwendigkeit zum immer neuen, situationsbezogenen Bekennen betont. Die evangelische Tradition kennt kein Lehramt im römisch-katholischen Sinn, sondern versteht sich als Auslegungsgemeinschaft: Alle Gläubigen legen gemeinsam die Schrift aus im Vertrauen auf die Leitung durch den Heiligen Geist. Die Kirche hat dabei eine unterstützende Funktion, indem sie für die Förderung und Erhaltung des Predigtamtes Sorge trägt.
Die römisch-katholische Lehre betont die Bedeutung der ungebrochenen Überlieferung der Lehre der Apostel in der Kirche. Diese gründet im Heiligen Geist: Dieser inspiriert die Schrift und ermöglicht ihre authentische Auslegung ebenso wie das die Tradition weitergebende Lehramt. Nach römisch-katholischer Lehre sind somit sowohl die Inhalte des Glaubens als auch die Art und Weise, wie wir glauben, eng mit der Kirche verflochten. Über die Auslegung der Schrift und Wahrung der Tradition wacht das Lehramt, ausgeübt durch die Bischöfe mit dem Papst an ihrer Spitze. Ausgelegt wird die Schrift im Kontext der Tradition, also im Zusammenhang der Bekenntnisse und Dogmen der Kirche. Schrift und Tradition entspringen derselben Quelle – dem Heiligen Geist – und bedürfen einander. Überlieferte Lehraussagen treten so neben die Schrift, beide sollen „mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden“ (Dei Verbum 9). Die Schrift gilt jedoch als „suffizient“, d.h. nicht ergänzungsbedürftig. Unterschieden wird daher zwischen dem allein normativen Zeugnis der Schrift (norma normans) und den durch diese normierten Zeugnissen der Tradition (norma normata). Dieses Wechselspiel ist dem „lebendigen Lehramt der Kirche“ anvertraut. Das Lehramt ist dadurch dem Wort Gottes nicht übergeordnet, sondern dient ihm durch die authentische Überlieferung und Bewahrung. Wie Lehramt und die Schrift einander zugeordnet werden, ist einer der zentralen ökumenischen Streitpunkte.
In den theologisch sehr unterschiedlich geprägten Freikirchen wird das Verhältnis von Schrift und Tradition vielfach kaum bearbeitet. Denn im Zentrum steht die zentrale Bedeutung der Schrift: Jede/r Glaubende hat einen direkten Zugang zur Schrift, vermittelt allein durch den Heiligen Geist und nicht durch Tradition oder kirchliche Ämter. Die Schrift ist dabei immer wieder neu und situativ auszulegen für das Leben im Glauben. In dieser Betonung der Schrift – und aus anderen Gründen – kennzeichnet viele Freikirchen ein traditionskritischer Impuls. Bekenntnisbildung spielt zumeist eine untergeordnete und zeitlich begrenzte Rolle. Folglich wurde der Tradition lange wenig theologische Bedeutung zugemessen, wobei die faktische Bedeutung der identitätsstiftenden Traditionen inzwischen gerade in ökumenischen Zusammenhängen deutlicher herausgestellt wird.
Das Verhältnis von Schrift und Tradition ist in den orthodoxen Kirchen kein zentrales Thema. Beide bilden eine Einheit, entspringen derselben Quelle und können nicht sekundär voneinander getrennt werden. Sie bilden zwei Aspekte der einen TRADITION im o.g. Sinn: Schrift und Tradition bewahren die eine Überlieferung Christi und der Apostel, begründet und bewahrt durch den Heiligen Geist. Die Frage nach der Vorordnung einer Instanz entfällt somit. Zentral ist die Aneignung der Tradition in der gottesdienstlichen Versammlung, der Liturgie. Garanten der Wahrheit sind die Festschreibungen der sieben ökumenischen Konzilien. In der jüngeren Theologie wird die Frage der Gewichtung von Schrift und Tradition – auch im Licht der ökumenischen Debatten – expliziter als Dilemma auch der orthodoxen Kirchen benannt.
Ökumenischer Dialog
Die Gegenüberstellung von Schrift und Tradition gründet in der reformatorischen Abgrenzung der Schrift, die als Zeugnis der Offenbarung Gottes beschrieben wird, zur Tradition – verstanden als kirchliche Lehre menschlichen Ursprungs. Diese binäre Zuschreibung wurde zu einem identitätsstiftenden Marker konfessioneller Differenzierung insbesondere zwischen protestantischer und römisch-katholischer Theologie, der zwischen unterschiedlichen Zuspitzungen changierte (allein die Schrift, Schrift und Tradition, Schrift statt Tradition u.a.).
In ökumenischen Gesprächen wurde zum Verhältnis von Schrift und Tradition in den letzten Jahrzehnten viel Verständigung erreicht. Während der Traditionsbegriff lange Zeit v.a. der römisch-katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen zugeschrieben wurde und die protestantischen Kirchen in der Abgrenzung dagegen die Schrift zum identitätsstiftenden Prinzip machten, konnten solche dualen Verengungen in den letzten Jahrzehnten konstruktiv und sehr weitreichend bearbeitet werden. Leitend war dafür insbesondere die Einordnung der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition in die Fragen nach der Bedeutung von Geschichte und des geschichtlichen Charakters der biblischen Texte auf der einen Seite und nach der Relevanz von tradierenden Gemeinschaften auf der anderen Seite. Übereinstimmend wird betont, dass alle Konfessionen zur Vergewisserung ihrer „Ursprungstreue“ Traditionen ausbilden. Tradition dient somit der vergegenwärtigenden Erinnerung an Gottes Heilshandeln. Die Bedeutung von Schrift und Tradition ist verankert in der Überzeugung, dass Gott sich der Welt erschließt und sich in und durch sein Wort in menschliche Worte entäußert. Die Entstehung der Schrift kommt somit als ein traditionsbildender und traditionsbindender Prozess in den Blick, der weder als rein göttlich – im vermeintlichen Gegenüber zu menschlicher Tradition – noch als von den Traditionen abgetrennt verstanden werden kann. Zugleich wird den kanonisierten Texten traditionskritisches Potenzial im Gegenüber zur nicht-kanonischen Tradition zugesprochen. Die kanonisierte Schrift stellt daher die normative Grundlegung jeder weiteren Traditionsbildung dar. In den ökumenischen Verständigungen wurde im Blick auf die protestantische Tradition herausgestellt, dass diese nicht nur bezogen ist auf die überlieferten Glaubensinhalte und Bekenntnisse, sondern auch der identitätsstiftende Rückbezug auf die biblischen Texte eine Bindung an die dort bezeugten Traditionen darstellt. Für die römisch-katholische Position wurde das Verhältnis von Lehramt, Schrift und Tradition dahingehend präzisiert, dass das Lehramt die Weitergabe und gegenwartsorientierende Auslegung der Tradition gerade ermöglichen kann. Diese Verständigungen dokumentiert im deutschsprachigen Raum zuletzt die sog. „Traditionsstudie“ des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses (DÖSTA) von 2010.
Frederike van Oorschot
Literatur
- Maikranz, Elisabeth / Ziethe, Carolin: Schrift und Tradition. In: Schriftbindung evangelischer Theologie, hg. von Frederike van Oorschot und Friedrich-Emanuel Focken in Zusammenarbeit mit Clarissa Breu, Walter Bührer, Elisabeth Maikranz, Raphaela Meyer zu Hörste-Bührer, Torben Stamer, Kinga Zeller und Carolin Ziethe (ThLZ.F 32), Leipzig 2020, 155-189.
- Oberdorfer, Bernd / Swarat, Uwe (Hg.): Tradition in den Kirchen. Bindung, Kritik, Erneuerung. Hg. im Auftrag des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses, Frankfurt a.M. 2010.