Unierte evangelische Landeskirchen

Situation in der Gegenwart

Unierte Landeskirchen sind ein dritter evangelischer Kirchentyp innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) neben Lutheranern und Reformierten. Die meisten sind in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden und verdanken sich theologischen und (kirchen)politischen Entwicklungen dieser Zeit.

Aktuell (Stand: 31.12.2019) gehören ca. 10 Millionen Christ/innen in Deutschland einer von zehn unierten Kirchen an:
-    Ev. Landeskirche Anhalts (29.649 Mitglieder in 133 Gemeinden)
-    Ev. Landeskirche in Baden (1.116.079 Mitglieder in 481 Gemeinden)
-    Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (914.260 Mitglieder in 1.181 Gemeinden)
-    Bremische Ev. Kirche (180.955 Mitglieder in 64 Gemeinden)
-    Ev. Kirche in Hessen und Nassau (1.483.767 Mitglieder in 1.127 Gemeinden)
-    Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck (783.980 Mitglieder in 715 Gemeinden)
-    Ev. Kirche in Mitteldeutschland (677.436 Mitglieder in 1.833 Gemeinden)
-    Ev. Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche) (494.757 Mitglieder in 401 Gemeinden)
-    Ev. Kirche im Rheinland (2.453.379 Mitglieder in 687 Gemeinden)
-    Ev. Kirche von Westfalen (2.150.027 Mitglieder in 476 Gemeinden)
Mit zwei weiteren Mitglieds- (Lippische Landeskirche, Ev.-reformierte Kirche) und vier Gastkirchen (Ev.-Lutherische Kirche in Norddeutschland, Ev.-Lutherische Kirche in Oldenburg, Ev. Landeskirche in Württemberg, Reformierter Bund) bilden sie seit 2003 die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) – ein Zusammenschluss, der die frühere Evangelische Kirche der Union (EKU) und die Arnoldshainer Konferenz (AKf) weiterführt.
In den unierten Kirchen spielt sich kirchliches Leben in erster Linie in den Gemeinden vor Ort ab, die von einem Presbyterium o.a. zusammen mit dem/der Pfarrer/in geleitet werden. Auf Landeskirchenebene ist die demokratisch gewählte Synode das höchste Entscheidungsgremium. Daneben gibt es weitere landeskirchliche Leitungsstrukturen (z.B. Landeskirchenrat, Kirchenverwaltung/-regierung). Leitende/r Geistliche/r kann ein/e (Landes-)Bischof/Bischöfin, Kirchenpräsident/in, Präses oder Schriftführer/in mit von Kirche zu Kirche unterschiedlichen Vollmachten sein. Die mittlere Ebene zwischen den Gemeinden und der Landeskirche bilden die Dekanate, Kirchenkreise o.ä. mit ebenfalls einem synodalen Gremium sowie einem/einer Dekan/in, Superintendent/in o.ä. an der Spitze.
Anders als lutherische und reformierte Kirchen haben die unierten Kirchen keinen Zusammenschluss auf Weltebene. Sie stehen jedoch mit anderen Kirchenunionen in Europa und weltweit in Verbindung (z.B. „Protestantse Kerk in Nederland“, „United Church of Christ“ in den USA) und nehmen teil an den weltweiten Zusammenkünften „Vereinigter und sich vereinigender Kirchen“ (United and Uniting Churches), die in unregelmäßigen Abständen vom Ökumenischen Rat der Kirchen unter Federführung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung organisiert werden. Darüber hinaus gehören sie der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) an und stehen mit deren Mitgliedern in Kirchengemeinschaft.


Geschichte

Die Wurzeln der unierten Landeskirchen in Deutschland reichen bis in die Zeit der Religionsgespräche des 17. Jahrhunderts zurück. Doch erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führte die Aufklärung mit ihrer Skepsis gegenüber geoffenbarten Wahrheiten und der Pietismus mit seiner betont persönlich-praktischen Frömmigkeit zu einer wirklichen Annäherung von Lutheranern und Reformierten. Großen Anteil daran hatte Friedrich Schleiermacher, der als geistiger Vater und Vordenker des Unionsgedankens gilt. Im Zuge der politischen und territorialen Umbrüche des beginnenden 19. Jahrhunderts kam es, aus einer verbreiteten Aufbruchsstimmung und der Sehnsucht nach (nationaler wie auch konfessioneller) Einheit heraus, zu ersten Lokalunionen. Um den neu entstanden gemischtkonfessionellen Ländern eine angepasste kirchliche Ordnung zu geben, wurden zugleich in einigen Staaten die bestehenden lutherischen und reformierten Konsistorien vereinigt, z.T. aus politischen Interessen, die neu entstandenen Staaten durch einheitliche Religion zu stärken. Den entscheidenden Anstoß gab das 300jährige Reformationsjubiläum 1817. König Friedrich Wilhelm III. nahm es zum Anlass, um den Zusammenschluss der beiden reformatorischen Traditionen im Königreich Preußen und eine erste gemeinsame Abendmahlsfeier anzuordnen. Bereits im August 1817 hatten sich auf einer reformiert-lutherischen Generalsynode die Gemeinden im Herzogtum Nassau vereinigt. Weitere Unionen folgten: z.B. Pfalz (1818), Baden (1821), Rheinhessen (1822), Waldeck-Pyrmont (1821) und Anhalt (1820/1827). Anhänger der Unionsidee sahen in der Vereinigung der reformatorischen Traditionen die „Vollendung der Reformation“. Von anderen hingegen wurde sie heftig bekämpft und führte mancherorts zur Gründung neuer altkonfessioneller Kirchen, z.B. Evangelisch-lutherische Kirche in Preußen (1830), eine Vorläuferin der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, oder Evangelisch-Lutherische Kirche in Baden (1850).
Zwei unierte Landeskirchen sind erst im beginnenden 21. Jahrhundert aus dem Zusammenschluss vormals lutherischer und unierter Kirchen entstanden, die Ev. Kirche in Mitteldeutschland (2009) und die Ev.-Lutherische Kirche in Norddeutschland (2012). Im Hintergrund dieser Unionen stehen sowohl die Leuenberger Konkordie , die die Vereinigung bekenntnisverschiedener Kirchen aktiv gefördert hat, als auch strukturpolitische Überlegungen.
Zwei Arten von Kirchenunionen lassen sich unterscheiden. Bei der Mehrzahl handelt es sich um so genannte Verwaltungsunionen (z.B. Rheinland), die lediglich auf eine Vereinheitlichung der Behördenstrukturen sowie auf einen gemeinsamen Abendmahlsritus zielten, unter Beibehaltung der konfessionellen Prägung der einzelnen Gemeinden. Bei den sogenannten Bekenntnis- bzw. Konsensunionen (z.B. Pfalz) wurde der lutherische und reformierte Bekenntnisstand  der einzelnen Gemeinden zugunsten eines unierten, d.h. allgemein evangelischen Bekenntnisses aufgehoben. Es geht dabei weder um das Aufgehen der einen Konfession in der anderen noch um die Gründung eines neuen Bekenntnisstrangs, sondern darum, sich auf das gemeinsame reformatorische Erbe zu besinnen und dieses zur Grundlage kirchlichen Glaubens und Lebens zu machen.

 


Glaubensinhalte

In den Grundfragen der Offenbarung  und des Gottesverständnisses stimmen unierte Landeskirchen mit den anderen reformatorischen Kirchen überein. Mit ihnen teilen sie die Überzeugung, dass der Mensch allein aus Gnade („sola gratia“) und allein durch den Glauben („sola fide“) an Jesus Christus („solus Christus“) gerettet wird. Auch für sie ist das Wort Gottes, das allen menschlichen Bezeugungsinstanzen vorgegeben und unverfügbar ist und durch die Heilige Schrift bezeugt wird („sola scriptura“), die Lehrgrundlage. Den Bekenntnisschriften hingegen kommt eine weitaus geringere Bedeutung zu. In einer Verwaltungsunion folgen die einzelnen Gemeinden entweder dem lutherischen oder dem reformierten Bekenntnis oder aber dem Gemeinsamen beider. Die Bekenntnisunionen sind besonders von der „Confessio Augustana“ und von je nach Kirche unterschiedlichen Bekenntnisschriften aus beiden Traditionen (z.B. Kleiner Katechismus von Martin Luther, Heidelberger Katechismus) geprägt. Eine Ausnahme bildet die Ev. Kirche der Pfalz, in der die Heilige Schrift als alleiniger Glaubensgrund gilt, während die altkirchlichen Symbola und reformatorischen Bekenntnisschriften lediglich „in gebührender Achtung“ gehalten werden.
Auch in den grundlegenden ekklesiologischen Fragen stimmen die unierten Landeskirchen mit den übrigen ev. Kirchen überein. Für sie gründet die Kirche im Wort Gottes und ist überall dort gegeben, wo das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente evangeliumsgemäß gefeiert werden. Grundlage des Amtsverständnisses ist die Lehre vom allgemeinen Priestertum. Aufgabe des von Christus eingesetzten, ordinierten Amtes ist es sicherzustellen, dass Wort und Sakrament in rechter Weise verkündet bzw. gereicht werden. Besonders geprägt ist die unierte Ekklesiologie durch den Gedanken der Einheit der Kirche. Nach ihrem Selbstverständnis nehmen unierte Kirchen bereits das vorweg, was gesamtevangelisch erst 1973 mit der Leuenberger Konkordie erreicht worden ist: einen Grundkonsens in den zwischen Lutheranern und Reformierten strittigen theologischen Fragen.


Kirchliches Leben

Vom Unionsgedanken ist auch das gottesdienstliche Leben geprägt. Das Ziel besteht nicht in möglichst einheitlichen Gottesdienstformen, sondern darin, die unterschiedlichen liturgischen Traditionen wechselseitig zu öffnen und füreinander fruchtbar zu machen. Bis heute finden sich in den Agenden liturgische Formen aus beiden reformatorischen Traditionen (Abendmahlsgottesdienst, Predigtgottesdienst mit/ohne Abendmahl).
Für das Verhältnis von Kirche und Staat ist vor allem die Barmer Theologische Erklärung als wegweisendes Beispiel kraftvollen und einmütigen Handelns in der Verantwortung auch gegenüber Staat und Gesellschaft von Bedeutung.


Ethik

In den weiteren kirchlichen Lebensäußerungen (Spiritualität, Diakonie, usw.) wie auch im Bereich Ethik gibt es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den unierten Kirchen und den Verständnissen der lutherischen und reformierten Kirchen.


Ökumene

Die unierten Landeskirchen und die UEK bezeichnen sich selbst als „Modell und Motor der Einheit“. Ihre 200-jährige Erfahrung, sich auf Gemeinsamkeiten zu besinnen, Differenzen als Bereicherung zu erfahren und partikulare und ganzheitliche Interessen im Gleichgewicht zu halten, bringen sie als ihren Beitrag in die Suche nach der kirchlichen Einheit ein. Konfessionelle Unterschiede sollen nicht als Mittel zur Abgrenzung und Profilierung verstanden werden, sondern – mit Blick auf Christus als Haupt der einen Kirche und auf die Heilige Schrift als gemeinsame Glaubensgrundlage – als Zeichen einer lebendigen Vielfalt.
Innerevangelisch wollen sie das Selbstverständnis der Evangelischen Kirche in Deutschland als Kirche sowie die Einheit des deutschen Protestantismus stärken, ohne die Vielfalt der einzelnen Landeskirchen aufzugeben. Auf europäischer Ebene gehören sie zu den Wegbereitern der Leuenberger Konkordie, deren Grundanliegen, die Überwindung der Kirchenspaltung zwischen den reformierten und lutherischen Kirchen, uniertem Denken entspringt. Sie engagieren sich in der GEKE und setzen sich für eine Vertiefung der Kirchengemeinschaft ihrer Mitglieder ein. Auf Weltebene pflegen sie Partnerschaften zu anderen unierten Kirchen weltweit, arbeiten im Ökumenischen Rat der Kirchen mit und begrüßen nachdrücklich die angestrebte Zusammenarbeit des Lutherischen Weltbundes und der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen.
Zwar unterhält die UEK keine eigenständigen Beziehungen zu anderen Kirchen. Sie begleitet aber andere ökumenische Kontakte bzw. beteiligt sich an Dialogen auf verschiedenen Ebenen und rezipiert deren Ergebnisse für ihre Mitgliedskirchen. Im Zugehen auf die 200-jährigen Unionsjubiläen ab 2017 gab es zudem einen intensiven Dialog zwischen der UEK und der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, in dem beide Seiten ihr verbindendes reformatorisches Erbe und ihren gemeinsamen Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums betonten und sich zugleich dazu verpflichteten, in den Bemühungen um die Klärung der bestehenden Differenzen wie um eine fruchtbringende Zusammenarbeit nicht nachzulassen. Für die UEK sind solche ökumenischen Verständigungen Schritte zur Verwirklichung des Leuenberger Modells einer kirchlichen Einheit  in versöhnter Verschiedenheit. Ihre eigene Lerngeschichte, in der unterschiedliche Traditionen zu einem respektvollen Miteinander gefunden haben, sehen sie zugleich als ein Beispiel, wie man aktuellen Herausforderungen in Politik und Gesellschaft begegnen kann.

Thomas Stubenrauch

gegengelesen von Dagmar Heller


Literatur

  • Bauer, Gisa / Metzger, Paul: Grundwissen Konfessionskunde, Tübingen 2019, 201-208.
  • Gemeinsam evangelisch. 200 Jahre lutherisch-reformierte Unionen in Deutschland, hg. im Auftrag des Präsidiums vom Amt der UEK, Hannover 2016 (berichtigter und erweiterter Neudruck).
  • Kessel, Karin: Unionsverständnis aus Sicht einer unierten Kirche, in: Gottfried Müller (Hg.), Impulse und Erträge (FS Eberhard Cherdron), Speyer 2008, 57-68.
  • Schuegraf, Oliver: Die evangelischen Landeskirchen, in: Johannes Oeldemann (Hg.), Konfessionskunde, Paderborn-Leipzig 2015, 188-246, v.a. 208-212.
  • Stiewe, Martin: Art. Unionen IV/1, in: Theologische Realenzyklopädie 34 (2002), 323–327.

 

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