Spiritualität

Zum Begriff

Vom traditionellen protestantischen Begriff „Frömmigkeit“ unterscheidet sich der Begriff „Spiritualität“ dadurch, dass er im Gegensatz zu diesem nicht bloß Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung meint, sondern beides mit dem Glauben verbindet. Dazu, dass der Begriff auch im Protestantismus Karriere machte, haben verschiedene Faktoren beigetragen. So besitzt „Spiritualität“ gegenüber „Frömmigkeit“, „Religiosität“ und „Glaube“ verschiedene Vorteile: Der Begriff ist im Bereich der gesamten Ökumene verständlich. Schon von seiner ursprünglichen Verwendung in der katholischen Ordenstheologie her ist klar, dass verschiedene Spiritualitäten mit unterschiedlichen Profilen und Theologien existieren: eine benediktinische, franziskanische, jesuitische etc., während es Glaube nur im Singular gibt. Auch bringt der Begriff das in der abendländischen Theologie lange vernachlässigte Wirken des Geistes neu zu Bewusstsein. Der in „Spiritualität“ enthaltene Aspekt der Gestaltwerdung macht deutlich, dass die soziale Dimension zum Glauben untrennbar dazugehört. Last but not least spricht für die Verwendung des Begriffs „Spiritualität“, dass er im Gegensatz zu den traditionellen Begriffen „Frömmigkeit“, „Religiosität“ und „Glaube“ für junge und ältere Menschen, auch für solche, die dem christlichen Glauben fernstehen, einen positiven Klang besitzt. Während viele Menschen in einer nachchristlichen Gesellschaft meinen, mit dem altbekannten Christentum fertig zu sein, weist der Begriff „Spiritualität“ auf Unbekanntes. Gerade seine Vagheit macht neugierig, verlockt dazu, sich mit den damit bezeichneten Phänomenen näher zu beschäftigen.
Umstritten ist die Frage, in welchem Verhältnis die Wiederkehr der Spiritualität zur in der bundesdeutschen Gesellschaft gleichzeitig um sich greifenden Entkirchlichung und Säkularisierung steht. Der Ansehensverlust der Großkirchen und traditionellen Freikirchen stellt ein ökumenisches Phänomen dar. Er schreitet ungebremst voran, was vor allem bei den Großkirchen an gleichbleibend hohen Austrittzahlen zu erkennen ist. Die verfassten Kirchen und Freikirchen erscheinen vielen Menschen in ihren Traditionen erstarrt und spirituell ausgedörrt. Gerade spirituell Interessierte erwarten von ihnen keine Antworten mehr auf ihre Fragen.
Ich schlage vor, unter christlicher Spiritualität – in Aufnahme von Überlegungen der EKD-Denkschrift von 1979 – den gelebten Glauben zu verstehen, wobei der Begriff die drei Aspekte des rechtfertigenden Glaubens, der Frömmigkeitsübung und der Lebensgestaltung miteinander verbindet. Einerseits befreit die Erfahrung der Rechtfertigung allein aus Gnaden den Gläubigen dazu, den Glauben in immer neuen Formen einzuüben und in der alltäglichen Lebensgestaltung zu bewähren, andererseits bewahrt sie davor, das eigene spirituelle und ethische Streben zu überschätzen. Die Mystik stellt eine Intensivstufe der Spiritualität dar.


Exemplarische Einblicke in das besondere Profil der verschiedenen Konfessionen

Die Spiritualität der reformatorischen Kirchen zeichnet sich durch eine doppelte, gegenläufige Bewegung aus. Einmal verläuft diese Bewegung in Richtung auf Konzentration, zum anderen in Richtung auf Grenzüberschreitung, wobei beide Bewegungen von Jesus Christus her begründet werden. Die Konzentrationsbewegungen lässt sich an den sog. vier Exklusivpartikeln festmachen: solus Christus, sola scriptura, sola gratia, sola fide – allein Christus, allein die Schrift, allein durch Gnade, allein durch Glauben. In der Konsequenz fallen die Heiligen als Mittlergestalten zwischen Gott und Mensch fort. Jeder Christ kann selbstständig aus der Bibel den Willen Gottes erfahren, wodurch der Christ unabhängig von kirchlichen Vermittlungsinstanzen wird. Gottes Gerechtigkeit ist nicht als dessen – unerfüllbare – Forderung an den Menschen zu verstehen, sondern sein aus freier Gnade gewährtes Geschenk. Heil erlangt der Mensch allein im Glauben an die in Jesus Christus vollbrachte Versöhnung.
Die grenzüberschreitende Bewegung reformatorischer Spiritualität zeigt sich an ihrer Entdeckung von Familie, Beruf und Gesellschaft als deren primäre Verwirklichungsfelder. Der Einsatz für das Wohl des Nächsten in der Familie und in der Gesellschaft wird zum Dienst für Christus, zum Gottes-dienst.
Die herausragenden Formen römisch-katholischer Spiritualität sind Eucharistie und Exerzitien. Dabei stellen die Einzelexerzitien das heimliche spirituelle Kraftreservoir der katholischen Kirche dar. Sie werden von vielen Priestern, Ordensleuten und engagierten Laien regelmäßig absolviert. Dadurch soll eine Vertiefung des persönlichen Glaubens und eine Veränderung des Lebens zur größeren Ehre Gottes erreicht werden. Den Ignatianischen Exerzitien liegt das Werkbuch des Ignatius von Loyola für Exerzitienbegleiter „Geistliche Übungen“ zugrunde. Die Exerzitien können von drei Tagen bis vier Wochen dauern. Der Exerzitant verbringt die ganze Zeit in der Stille, ohne mit anderen zu reden, betet bzw. meditiert täglich mehrere Stunden. Neben den Exerzitien bietet die regelmäßig gefeierte Eucharistie die wichtigste Möglichkeit, sich den Glauben der Kirche persönlich zu eigen zu machen.
Orthodoxe Theologen sind sich darin einig, dass Gott nicht durch logische Gedankenentwicklung zu erkennen ist, sondern allein auf dem Weg gelebter Spiritualität. Primärer Ort der Gotteserfahrung ist dabei die Göttliche Liturgie, die Feier des Gottesdienstes. Daneben stellt das Jesus- oder Herzensgebet ein charakteristisches Mittel dar. Es lautet in seiner am meisten verbreiteten Form: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“. Während des ersten Teils des Gebets findet das Einatmen, während des zweiten Teils das Ausatmen statt. Ziel des Gebets ist die mystische Schau des göttlichen Lichtes, wie sie den Jüngern auf dem Berg Tabor zuteil geworden ist (vgl. Mk 9). In jüngerer Zeit hat das Jesusgebet durch die „Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“ auch im Westen viele Freunde gefunden.
Von Anfang an weist die Spiritualität der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen eine Fülle unterschiedlichster theologischer Prägungen und Gestaltungsformen auf. Wichtige Beispiele sind die Spiritualität der traditionellen Freikirchen und der pfingstlich-charismatischen Bewegungen. Die Spiritualität des Baptismus etwa, dessen Entstehung bis in die Reformationszeit zurückreicht, ist von Haus aus missionarisch bzw. evangelistisch. Mit der Betonung der persönlichen bewussten Glaubensentscheidung ist die Hervorhebung des allgemeinen Priestertums verbunden. Spezielle geistliche Ämter treten in den Hintergrund. Baptisten wollen in ihrer persönlichen Heiligung vorankommen, d.h. Jesus ähnlicher werden, und sind bestrebt, Alltagsentscheidungen aufgrund von biblischen Aussagen zu treffen. Die Spiritualität der seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen charismatischen Bewegungen zeichnet sich durch die Erwartung des Geisteswirkens in Charismen und Wundern aus. Spezifische Lobpreis- und Anbetungslieder haben sich weit über die Grenzen der Bewegungen verbreitet. 


Das ökumenische Potenzial gelebter Spiritualität

Die gelebte Spiritualität war schon immer das Feld, auf dem der ökumenische Austausch zwischen den Konfessionen am besten funktionierte. Damit das ökumenische Potenzial gelebter Spiritualität kraftvoll zur Geltung kommen kann, ist es unerlässlich, dass sich die unterschiedlichen Kirchen und Freikirchen des besonderen Profils ihrer Spiritualität bewusst werden, diese pflegen und an die nachwachsende Generation weitergeben. Erst auf der Basis einer je eigenen spirituellen Identität ist ein spirituelles Lernen, zu dem auch der Austausch von spirituellen Formen gehört, unter ökumenischen Partnern sinnvoll. Im Voneinander-Lernen gewinnen die einzelnen Traditionen an Reichtum und Tiefe. Außerdem ermöglicht der gegenseitige Austausch, falsche Einseitigkeiten zu überwinden.
Die Spiritualität der reformatorischen Kirchen befreit die Spiritualität aus der Vereinnahmung durch religiöse Eliten. Demokratisierung und Alltagsverträglichkeit sind Aspekte christlicher Spiritualität, die auch für die katholische und die orthodoxe Tradition maßgeblich sein sollten. Allerdings droht durch die Betonung der subjektiven Seite des Glaubens die unverzichtbare Bedeutung der christlichen Gemeinde für die evangelisch-landeskirchliche Spiritualität aus dem Blick zu geraten. Außerdem trübt eine einseitige Ausrichtung auf das Handeln in der Welt in Diakonie und Sozialethik die Sicht für die notwendige „Selbstzwecklichkeit der Kirche“ (Dietrich Bonhoeffer). Beide Gefährdungen können durch die anderen Akzentsetzungen der katholischen, der orthodoxen Frömmigkeit, aber auch der freikirchlichen Spiritualität korrigiert werden.
Auch von orthodoxer Spiritualität können hilfreiche Impulse für die Frömmigkeit der westlichen Kirchen ausgehen. Mystisch geprägte orthodoxe Theologie und Spiritualität wertet nicht den Intellekt als solchen ab, sondern einen einseitigen Intellektualismus. Sie zielt auf eine ganzheitliche Erfahrung Gottes, die neben dem Denken auch den Körper und das Gefühl einbezieht. Viele Menschen der westlichen Kultur sind auf der Suche nach ganzheitlichem Leben. Dadurch, dass die Spiritualität in den traditionellen westlichen Kirchen weithin rational bzw. ethisch ausgerichtet ist, wandern sie in neue religiöse Bewegungen ab, wo ihr Bedürfnis nach ganzheitlicher Frömmigkeit eher gestillt wird. Die Orthodoxie vermag die evangelische und römisch-katholische Tradition zu inspirieren, neben den rationalen und ethischen Aspekten der Spiritualität deren übrige Dimensionen zu entdecken.
Freikirchliche Spiritualität hat das Potenzial, angesichts von zunehmender Säkularisierung und Entkirchlichung den Großkirchen zu helfen, zu erkennen, dass der evangelistische bzw. missionarische Aspekt der Spiritualität für das Überleben des Christentums gerade in Europa unerlässlich ist.

Peter Zimmerling


Literatur

Barth, Hans-Martin, Spiritualität, Bensheimer Hefte 74, Göttingen 1993.
Dahlgrün, Corinna, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, 2. Auflage, Berlin/New York 2018.
Koslowski, Jutta /Wagner, Jochen (Hg.), Ökumenische Spiritualität, Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 128, Leipzig 2020.
Schütz, Christian (Hg.), Praktisches Lexikon der Spiritualität, Freiburg i.Br. 1988.
Zimmerling, Peter (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität, Bd. 1–3, Göttingen 2017–2020.
Zimmerling, Peter , Evangelische Mystik, 2. Auflage, Göttingen 2020.

 

Zurück