Neocharismatiker

Situation in der Gegenwart

Als Neocharismatiker bezeichnet man Christen, die charismatischen Gemeinschaften angehören, die aus der sogenannten „Dritten Welle“ des Heiligen Geistes hervorgegangen sind. Die „Dritte Welle“ des Heiligen Geistes, so der „Erfinder“ des Begriffs, der amerikanische evangelikale Missionar und Missiologe C. Peter Wagner (1930-2016), verbinde mit der „ersten Welle“, der Pfingstbewegung, und mit der „zweiten Welle“, der Charismatischen Bewegung, die übernatürlichen Manifestationen des Heiligen Geistes, von denen das Neue Testament berichtet. Zugleich sei sie etwas Neues. Gegen eine dominante Überzeugung im Evangelikalismus, die übernatürlichen Manifestationen seien auf die neutestamentliche Zeit beschränkt (Cessationism), entdeckten Evangelikale wie C. Peter Wagner und der amerikanische Leiter der Vineyard-Bewegung John Wimber (1934-1998) die missionarische Bedeutung von „Zeichen und Wundern“, von „signs and wonders“. Wagner, Professor am kalifornischen Fuller Theological Seminary, präsentierte dies zusammen mit Wimber dort. Mit dem evangelikalen Ursprung verband sich zugleich die Lösung von einem pfingstlerischen und charismatischen „Marker“, der Taufe im Heiligen Geist mit Sprachenrede als Evidenz, eine Absage an eine bestimmte pfingstlerische Systematik. Trotz evangelikaler Herkunft beeinflusste die von Wagner und Wimber ausgehende Bewegung massiv die Charismatische Bewegung. Neocharismatik bezeichnet also überwiegend die Auswirkungen der Dritten Welle auf die Charismatische Bewegung. Neocharismatik wie Dritte Welle bezeichnen damit Kontinuität wie Neues. Sie knüpfen an bereits Vorhandenes an. Das gilt ganz besonders für den deutschsprachigen Raum und die unabhängigen Charismatischen Gemeinden, Gemeindezentren und Gemeindenetzwerke. Charakteristisch waren die drei Wimber-Kongresse (1987, 1988, 1992) in Deutschland. Sie fanden große Zustimmung wie deutliche Vorbehalte. Die thematischen Schwerpunkte waren: Der Erweis göttlicher Macht (power, nach dem griechischen exousia) durch Zeichen und Wunder, in der Verkündigung (power evangelism), durch Heilung (power healing) und im exorzistischen Kampf gegen dämonische Kräfte (power encounter). Das alles findet sich schon in der gesamten Geschichte der Pfingstbewegung und der Charismatischen Bewegung. Neu sind Stellenwert, Dynamik und der instrumentelle Gebrauch der so verstandenen übernatürlichen Vollmacht, von „Power“, der Zeichen und Wunder im Leben der Gemeinden. Sie stehen ganz im Dienst von Evangelisation und Mission, sind integraler Teil davon. Das gilt auch für die Formen „Geistlicher Kriegführung“ und für das Konzept der „Neuen Apostolischen Reformation“. 

„Neocharismatik“ wie „Dritte Welle“ sind damit nicht trennscharf, auch deshalb, weil als neocharismatisch auch die Entwicklungen im „Globalen Süden“ bezeichnet werden, unabhängige Kirchen pentekostaler und charismatischer Prägung, Mega Churches in Lateinamerika, Afrika und Asien. Sie haben Auswirkungen auch im „Globalen Norden“, durch Migrationsgemeinden, auch durch missionarische Aktivitäten. 
 


Geschichte

Am Ursprung der neocharismatischen Bewegung stehen C. Peter Wagner und John Wimber. Neben Zustimmung auch in Kreisen der konfessionellen Charismatischen Bewegung gab es auch deutlich kritische Stimmen. Ähnliches wiederholte sich bei weiteren Bewegungen mit anfänglicher Beteiligung von John Wimber oder Vineyard. Zu nennen ist die mit Mike Bickle, heute Leiter des Internationalen Gebetshauses in Kansas City, des International House of Prayer in Kansas City (IHOPKC), verbundene Prophetenbewegung Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre und ganz besonders für den mit einer Vineyard–Gemeinde in Toronto verbundenen „Toronto-Segen“. Mit beiden Bewegungen wurde der Beginn einer globalen Erweckung angekündigt. Den Toronto Segen kennzeichneten neben dem auch in der Charismatischen Bewegung praktizierten „Ruhen im Geist“ (Resting in the Spirit) oder Hingestrecktwerden im Geist („Slain in the Spirit) Manifestationen wie Lachen, Trunkensein, Bellen etc. im Geist. Europäisches Zentrum des Toronto Segens war die anglikanische Holy Trinity Brompton Gemeinde in London, deutsches Zentrum war vor allem das Christliche Zentrum Frankfurt. Zum Toronto Segen gab es eine verhalten positive Erklärung des Kreis Charismatischer Leiter (KCL), eine kritische aus der katholischen Charismatischen Erneuerung. John Wimber und Vineyard trennten sich von der Gemeinde in Toronto. Der Toronto-Segen war ein Ausgangspunkt für einflussreiche neocharismatische Gemeindezentren in den USA, deren Leiter gehörten z.T. zu den Protagonisten. 


Glaubensinhalte

Das Projekt der neocharismatischen Dritten Welle wurde von Wagner weiter entwickelt. Mit der evangelistischen Bedeutung von Heilungswundern verbindet sich die Überzeugung von dämonischer Behinderung der Mission, bei Einzelnen und bei ganzen Regionen. Dagegen steht das nach Eph 6,10-13 entwickelte Konzept der „geistlichen Kriegführung“ gegen dämonische Mächte (spiritual warfare), die Identifizierung konkreter, durch Gebetsmärsche zu befreiender Gebiete (spiritual mapping), darunter auch Orte der Marien- und Heiligenverehrung. Wichtig wurde auch das Konzept der Restauration des fünffältigen Amtes nach Eph 4,11 von Aposteln, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern, eng verbunden mit dem Projekt der „Neuen Apostolischen Reformation“ (NAR). Im Rückgang auf neutestamentliche Gemeindemodelle stehen Apostel für Aufsicht und Neugründungen von Gemeinden, Propheten für die Erkenntnis von Gottes Wegen für die Gemeinden jetzt und zukünftig. Das prophetische Element erstreckte sich bis auf die amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Mit einer Reich-Gottes-Theologie (Kingdom) und unter dem Stichwort „Dominionism“ verbindet sich der Anspruch theonomer Gestaltung von Gesellschaft und Kultur, die Herrschaft des Menschen über die Schöpfung nach Gen 1,29 und ganzheitlich-holistische Mission. Das führt zu einer neuen Sicht gesellschaftlichen und sozialen Engagements als Teil des „Großen Auftrags“ nach Mt 28, 19f. Ekklesiologisch stehen neben den Mega Churches besonders in den USA Netzwerke eigenständiger Gemeinden. Der Großteil charismatischer Gemeinen in den USA außerhalb der „Traditionskirchen“ kann heute der Neocharismatik zugerechnet werden. Auch die vom IHOPKC des Mike Bickle ausgehende Gebetshausbewegung gehört zur Neocharismatik, will sich aber nicht mit der Neuen Apostolischen Reformation oder dem Dominionism identifizieren.

Alle hier genannten Motive lassen sich in den großen neocharismatischen Bewegungen und Kirchen in den USA wiederfinden. Um nur diese zu nennen: Das „Global Awakening“ mit Randy Clarke, einer der Initiatoren des Toronto-Segens, „Catch the Fire“ mit dem Leiterehepaar der damaligen Vineyard-Gemeinde in Toronto John und Carol Arnott, nicht zuletzt die Bethel Church von Bill Johnson , eine Mega Church  im kalifornischen Redding. Die durch die Praxis übernatürlicher Macht herbeizuführende Mission soll die Menschen zu Christus führen und die Kirchen wie auch Gesellschaft und Kultur verändern. Am deutlichsten wird das in der Vision der Bethel Church: On Earth as it is in Heaven - Im Himmel wie auf Erden. Damit deutet sich auch eine Öffnung des traditionellen Prämillennarismus in Richtung Postmillennarismus an: Die Wiederkunft Christi kommt, nachdem das Tausendjährige Reich schon begonnen hat. Elemente davon finden sich auch beim Gebetshaus in Kansas City: Mit den betenden „Vorläufern“ nimmt das Millennium schon Gestalt an. Die „Bethel Church“ hat inzwischen Vertreter auch in Deutschland, so der Dienst für innere Heilung „Sozo“. Charakteristisch für die großen amerikanischen neocharismatischen Kirchen ist die Verbindung von „konservativer“ evangelikaler Theologie und einer auf heutiges Lebensgefühl zugeschnittenen Selbstdarstellung.
 


Glaubens- und Gemeindeleben

Diese Verbindung kennzeichnet auch die neocharismatischen freikirchlichen Großgemeinden in Deutschland, in der Selbstdarstellung deutlich verhaltener. Drei werden hier exemplarisch vorgestellt. Sie sind Repräsentanten eines größeren Kontextes neocharismatischer Gemeinden wie etwa das D-Netz, ein Netzwerk von 300 eigenständigen, unabhängigen, sich (neo)charismatisch verstehenden Gemeinden mit ca. 3000 Leitern. Leiter ist Peter Wenz vom Gospel Forum Stuttgart. Dem D-Netz gehören auch Gemeinden außerhalb Deutschlands an. Es ist dies ein Modell neocharismatischer Gemeindebildung, freikirchliche, reich gegliederte Großgemeinden mit zugehörigen Gemeinden und Werken einerseits, zum anderen ein Netzwerk eigenständiger Gemeinden, evangelikal und mehr oder minder neocharismatisch. 

„Das Gospel Forum ist eine Kirche für alle, die nicht mehr in die Kirche gehen“, so auf den Seiten des Gospel Forum Stuttgart. Anders gesagt: Eine Kirche, in der man sich wohlfühlen kann. Dort findet man auch eine Kurzformel neocharismatischen Selbstverständnisses: „Wir leben für eine neue Reformation in Kirche und Gesellschaft durch die Kraft des Heiligen Geistes.“ Die durch die „Kraft des Heiligen Geistes“ angestrebte „Reformation in Kirche und Gesellschaft“ beinhaltet auch die, wie es in einer früheren Fassung des Glaubensbekenntnisses hieß, „fantastischen Gaben“ des Heiligen Geistes. Das Gospel Forum zeigt heute das Bild einer freikirchlich organisierten neocharismatischen Großgemeinde (Medien sprechen von deutscher „Mega Church“). Es gibt sehr gut besuchte Gottesdienste sowie eine große Zahl von Pastoren und Mitarbeitenden. Die Gemeinde bekennt sich zum fünffältigen Amt nach Eph 4,11. Kleingruppen sind „Hauskirchen“ mit Taufe und Abendmahl. Zielgruppenorientierte Angebote wenden sich an Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder. Zum Gospel Forum gehört auch ein Gebetshaus angebot. Im schwäbischen Umfeld gibt es mehrere Tochtergemeinden. Eigene akademische Ausbildungsangebote kooperieren mit einer evangelikal orientierten US-amerikanischen Universität. Diakonische Einrichtungen und Werke auch außerhalb Deutschlands zeigen das ganzheitliche Verständnis des „Großen Auftrags“. Peter Wenz gehört dem Hauptvorstand der Deutschen Evangelischen Allianz an, was theologisch der evangelikalen Orientierung entspricht. Er ist zugleich Leiter des D-Netz und Sprecher des Kreis Charismatischer Leiter, dem auch die Vertreter der Traditionskirchen angehören.

Dem Modell einer neocharismatischen freikirchlichen Großgemeinde entspricht auch die TOS-Gemeinde Tübingen (früher Tübinger Offensive Studentenmission). Gegründet 1987 durch das Ehepaar Jobst und Charlotte Bittner versteht TOS sich als „eine Freikirche und ein internationales Hilfswerk mit evangelikal-charismatischer Prägung“. Man orientiert sich einerseits am Glaubensbekenntnis der World Evangelical Alliance, sieht sich zugleich der weltweiten Charismatischen Bewegung zugehörig. Mit zahlreichen Pastoren und Mitarbeitenden gibt es auch hier ein weites differenziertes, zielgruppenorientiertes Angebot auch diakonischer Art, mehrere Gemeindegründungen in Deutschland und im Ausland. Zum Schwerpunkt „Gebet“ gehören Gebets- und Bußmärsche, auch in der Tradition der Geistlichen Kriegsführung, den „Marsch für das Leben“, ebenfalls ein Gebetshausangebot. Im „Healing Room“ unter dem Leitsatz „Jesus heilt auch heute noch“ steht einmal monatlich ein Team zum Gebet um Heilung bereit für Menschen, die sich melden, um „von Jesus Wunder zu empfangen“. Ein besonderer Schwerpunkt von TOS ist die Verbundenheit mit dem jüdischen Volk und dem Staat Israel. 

Neocharismatisch ist auch die „Move Church“ in Wiesbaden, früher „Christliches Zentrum Wiesbaden“. Die „Move Church“ versteht sich als „evangelische Freikirche mit flexiblen Strukturen“, bekennt sich zum Apostolischen Glaubensbekenntnis, ist Mitglied der lokalen ACK und der „Senior Pastor“ mit „Jugend mit einer Mission“-Hintergrund Andreas Herrmann gehört zum Leiterkreis des D-Netz. Die Selbstdarstellung entspricht am ehesten den amerikanischen Beispielen: die optimistische Wohlfühl-Atmosphäre, „Willkommen Zuhause“, zahlreiche Anglizismen in der Sprache wie schon bei der Wahl des Namens. Das gilt vor allem für das Heilungsangebot: Mehrfach im Jahr finden unter dem Hinweis „Bei Gott ist nichts unmöglich“ Heilungsgottesdienste mit Andreas Herrmann statt, „in dem viele Menschen durch die Zeichen und Wunder, die seinen Dienst kennzeichnen, zu einer lebendigen Beziehung mit Jesus finden.“ Ärztlich verordnete Therapien und Medikamente sollen nicht ohne ärztlichen Rat abgesetzt werden, aber zu den Hinweisen im Gottesdienst heißt es, sie seien keine Diagnosen, sondern „übernatürliche Hinweise.“

Neocharismatisch sind große Teile der Gebetshausbewegung, z.T. unter dem Dach neocharismatischer Gemeinden. Das der katholischen Charismatischen Erneuerung verbundene, zugleich ökumenisch orientierte Gebetshaus Augsburg, in den Anfängen durchaus inspiriert vom neocharismatischen IHOPKC, vor allem durch das 24/7 Gebet, hat ein eigenes Profil. Neocharismatisch mit Orientierung an urkirchlicher Gemeinde ist die im deutschsprachigen Raum nur kleine Hauskirchenbewegung, im Unterschied zu Großbritannien. Die Bewegung „Messianischer Juden“, soweit charismatisch, hat partiell neocharismatische Züge, aber insgesamt ein eigenes Profil. 
 


Ökumene

Eine im Dialog mit dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen entstandene, theologisch sorgfältig gearbeitete, vielleicht etwas harmonisierende Selbstdarstellung „The Characteristics of the New Charismatic Churches“ behandelt die zentralen Aspekte neocharismatischer Theologie und Gemeindebildung. Der Text ist das Resultat eines langjährigen Dialogs mit Protagonisten Neocharismatischer Kirchen unter dem Dach des römischen Centro pro Unione, ein ökumenisches Zentrum franziskanischer Provenienz. Konkrete Gemeinden werden nicht genannt, aber die wichtigsten Vertreter der Neocharismatik in den USA waren am Text direkt oder per Feedback beteiligt. Er geht auch auf die vor allem britische Hauskirchenbewegung ein. Das 2018 abgeschlossene Papier steht auf den Seiten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen  und des Centro pro Unione. 

Hans Gasper

gegengelesen von Peter Wenz
 


Literatur

  • The Characteristics of the New Charismatic Churches, Rom 2018.
  • Gasper, Hans: Die Charismatische Bewegung. Konfessionelle, nichtkonfessionelle und neocharismatische Gemeinschaften, in: Oeldemann, Johannes (Hg.), Konfessionskunde, Paderborn/Leipzig 2015, 391-426.
  • Hempelmann, Reinhard: Licht und Schatten des Erweckungschristentums. Ausprägungen und Herausforderungen pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit, Stuttgart 1998. 
  • Lederle, Henry I.: Theology with Spirit. The Future of the Pentecostal-Charismatic Movements in the 21st Century, Tulsa (Oklahoma) 2010.
  • Zimmerling, Peter: Die Charismatischen Bewegungen. Theologie – Spiritualität – Anstöße zum Gespräch, Göttingen 2002.
     
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