Migrationsgemeinden

Begriffserklärung

„Migrationsgemeinden“ ist ein Begriff, den es zu problematisieren gilt. Keine Person einer sogenannten Migrationsgemeinde würde sich je als Mitglied einer „Migrationsgemeinde“ bezeichnen. Der Begriff ist stigmatisierend und ausgrenzend. Es besteht allerdings kein Konsens darüber, wie dieses sehr heterogene ekklesiale Phänomen bezeichnet werden kann. Neben den Bezeichnungen „Migrationsgemeinde“ bzw. „Migrationskirche“ (als Terminus in der Schweiz verwendet) haben sich folgende Bezeichnungen eingebürgert: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) verwendet meist „Gemeinden anderer Sprache und Herkunft“, daneben gibt es noch die Bezeichnungen „Internationale Gemeinden“, „transkulturelle Gemeinden“ und „fremdsprachige“ oder „ausländische Gemeinden“. Im katholischen Kontext wird meist von „Missionen“ (für verschiedene Sprachgruppen) gesprochen.

Diese sich wandelnden Bezeichnungen reflektieren einen Prozess des Austarierens zwischen unterschiedlichen Perspektiven, der noch längst nicht abgeschlossen ist. „Interkulturelle Gemeinde“ erscheint derzeit als Bezeichnung am angebrachtesten, da die kulturelle Vielfalt, in all ihren Ausprägungen, ein Desiderat jeglicher christlichen Gemeinde sein sollte (vgl. Gal 3,28). Gemeinsam ist den Mitgliedern dieser Zusammenschlüsse, dass die meisten einen recht zeitnahen Migrationshintergrund haben, die Migrationsprozesse das kirchliche Zusammensein prägend mitdefinieren und dass es sich bei dieser Religionsformation um ein sehr heterogenes Phänomen handelt. Grundsätzlich handelt es sich um christliche Gemeinschaften unterschiedlichster konfessioneller Prägung, die sich aus einer Migrationssituation entwickelt haben.

Die folgenden Ausführungen haben zumeist die protestantische Sicht vor Augen. Gemeinden aus der orthodoxen Tradition werden separat behandelt.


Kategorisierung

Um das heterogene Phänomen zu begreifen, ist es hilfreich, sich einen systematischen Überblick zu verschaffen. Es empfiehlt sich, Migrationsgemeinden nach ihrer jeweiligen Gründungsgeographie zu unterteilen. Dabei handelt es sich erstens um die autochthone Ekklesiogenese: Hierzu gehören Gemeinden und Kirchen, deren Mutterkirche sich in einem anderen Land befindet. Zweitens, die diasporale Ekklesiogenese: Dabei handelt es sich um Gemeinden und Kirchen, die von Eingewanderten in Deutschland gegründet wurden und nur dort existieren. Drittens kann die transkulturale Ekklesiogenese angeführt werden: Der Gründungsort und die Kirchenleitung befinden sich in Deutschland, und es haben bereits Gemeindegründungen in einem anderen Land/Kontinent z. B. in Afrika oder Asien stattgefunden. Diese Dreiteilung fokussiert nicht auf die konfessionellen Prägungen, die sich bei Migrationsgemeinden generell nicht leicht zuordnen lassen. Ein Großteil dürfte einer charismatisch-pentekostalen Frömmigkeit zuzuordnen sein.

Die Mitglieder dieser Gemeinden machen in ihrer neuen Heimat durchaus diverse Erfahrungen mit der Gesellschaft, aber auch mit den etablierten Kirchen. Diese können positiv, aber auch negativ verlaufen. Auf der Suche nach neuen Identitäten, auf die sich Mitglieder von Migrationsgemeinden begeben, lassen sich drei Phasen ausmachen, die prägend sind für die Identität einer Migrationsgemeinde. Sie können als alternierende Phasen verstanden werden: die Phase der Seklusion, die Phase der Öffnung und die Phase der Interkulturation. 

Die Phase der Seklusion
In der Phase der Seklusion sprechen die Gemeindeglieder in den Gottesdiensten und untereinander meist ihre Muttersprache (Koreanisch, Twi, Lingala, Yoruba usw.). Es ist daher eher unüblich, dass Gemeinden und Kirchen in dieser Phase Mitglieder aus dem Land gewinnen, in dem sie sich befinden. Ihre gemeindliche Zusammensetzung ist meist monoethnisch. Dies bringt wiederum kulturelle Eigentümlichkeiten mit sich. Durch den innerlichen Findungsprozess bestehen kaum bis gar keine ökumenischen Kontakte. Es besteht eher eine Distanz, die aus der Angst vor Proselytenmacherei geboren ist. Die Gemeinden bzw. Kirchen sind mit der Organisation und dem Selbstfindungsprozess ihrer Kirche derart beschäftigt, dass sie eine Wende nach außen und missionarische Aktivitäten (noch) nicht angehen. Allenfalls bestehen durch globale Vernetzungen Kontakte zur Mutterkirche oder anderen Kirchenzusammenschlüssen.

Die Phase der Öffnung
Migrationsgemeinden, die sich in der Phase der Öffnung befinden, verwenden als Gottesdienstsprache eine europäische Sprache bzw. ihre ehemalige Kolonialsprache, da die Zusammensetzung ihrer Mitglieder sich zum einen polyglott gestaltet und sie damit zum anderen ihre Internationalität und Offenheit demonstrieren wollen. Sie leben eine Offenheit gegenüber jeder christlichen Person, gleich welcher Nationalität, Konfession oder ethnischer Herkunft. Diese Gemeinden und Kirchen gestalten sich daher nicht nur polyglott, sondern sehr multikulturell. Demzufolge gehört zu ihren gemeindlichen Aufgaben aktive Missionsarbeit, verbunden mit Evangelisationen. Durch die nachhaltige Etablierung in der neuen Heimat wird eine ökumenische Zusammenarbeit anvisiert und ist teils auf fruchtbaren Boden gefallen: Diese kann durch gemeinsame Gottesdienste oder Evangelisationen Gestalt gewinnen.

Die Phase der Interkulturation
In der Phase der Interkulturation haben autochthone Europäer den Weg in die Gemeinde gefunden und haben in entscheidenden Gremien (z.B. Presbyterium) Mitspracherecht. Es macht Sinn von Interkulturation zu sprechen, da ein gegenseitiger Austausch vorherrscht: Migratorische Erfahrungen und Überlieferungen aus der Heimat und Elemente europäischer Tradition befruchten sich gegenseitig. Die Mitglieder bewegen sich zwischen unterschiedlichen kulturellen Orientierungen. Es besteht die dezidierte Absicht unter Europäern zu missionieren und Gemeindeglieder zu gewinnen. Je nach theologischer Prägung gehören Evangelisationen zum „Tagesgeschäft“. Diese Evangelisationen und „Crusades“ erfordern es, dass sie sich in einigen Punkten dem jeweiligen Gastland kulturell anpassen. So werden die Predigten meist in die europäische Landessprache übersetzt oder gar in dieser Sprache gehalten. Die Themen, die in den Predigten angesprochen werden, greifen üblicherweise auf die Herausforderungen im europäischen Alltag zurück.

 


Ökumenische Interaktion

Zahlreiche Migrationsgemeinden haben in den Räumen von etablierten deutschsprachigen Gemeinden Raum gefunden. Dort treffen sie sich, um Gottesdienste zu feiern und Gemeindeveranstaltungen abzuhalten. Die ökumenische Zusammenarbeit gestaltet sich sehr unterschiedlich:

Parallel-Modell
Die Migrationsgemeinde mietet am Sonntagnachmittag den Gemeindesaal an. Es wird eine Miete vereinbart, aber es bestehen keine konvivialen Begegnungen – nicht in Gottesdiensten, nicht am Gemeindefest, im Gemeindebrief wie im Schaukasten wird den „Gastgemeinden“ auch kein Raum zugeschrieben. Im Verständnis aller Beteiligten herrscht Konsens darüber, dass es sich keinesfalls um gleichwertige Gemeinden handelt.

Schwesterkirchen-Modell   
Beide Gemeinden haben sich angenähert. Es herrscht ein regelmäßiger Austausch, man lädt sich gegenseitig ein – übt Konvivenz – und feiert in regelmäßigen Abständen gemeinsame Gottesdienste. Man lernt voneinander und tauscht sich aus. Je eine Person ist Mitglied im Ältestenkreis der anderen Gemeinde, die Jugendarbeit fließt immer öfter in gemeinsamen Veranstaltungen zusammen, und man freut sich über die Chance, durch den spirituellen Reichtum der jeweils anderen seine Vielfalt zu erweitern. Dieses Schwesterkirchen-Modell hat v.a. in der Jugendarbeit zahlreiche Anknüpfungspunkte, da die zweite Generation der Gemeindeglieder von Migrationsgemeinden in diesem Land bereits beheimatet ist.

Integrations-Modell
Einige Migrationsgemeinden wollen das Schwesterkirchen-Modell weiter vertiefen und fragen bei etablierten Kirchen auf Mitgliedschaft an. Auf EKD-Ebene gibt es bereits einige Beispiele von Gemeinden, die als Anstaltsgemeinden oder Personalgemeinden Mitglied einer Landeskirche geworden sind. So werden sie in die Strukturen der Landeskirche integriert. Viele der Migrationsgemeinden verstehen sich als „post-konfessionell“, insbesondere die Gemeinden aus Afrika oder Asien und sind daher nicht im üblichen Sinne konfessionell einzuordnen. Viele von ihnen sind eher dem charismatischen und evangelikalen Spektrum zuzuordnen, welches aber ebenfalls seinen festen Ort in der landeskirchlichen Landschaft hat – nur eben nicht mit der kulturellen Differenz.

Interkulturelles Modell
Eine weitere Entwicklung im Bereich der ökumenischen Zusammenarbeit zeichnet sich in jüngster Zeit ab und kann als Interkulturelles Modell bezeichnet werden. In einem „dritten Raum“ (Homi Bhabha), der weitestgehend machtfrei gestaltet ist, in der nicht die eine oder andere Gruppe das Sagen hat, entsteht etwas Neues. Vertreter ursprünglich unterschiedlicher Gemeinden und Kirchen, meist jüngere Menschen, finden sich zusammen und bilden eine neue Gemeinde, die sich von Elementen und Riten der diversen Traditionen nährt.


Benjamin Simon


Literatur

Bowers, Laurene Beth: Becoming a Multicultural Church, Cleveland 2006.

Kahl, Werner: Vom Verweben des Eigenen mit dem Fremden. Impulse zu einer transkulturellen Neuformierung des evangelischen Gemeindelebens, Hamburg 2016.

Simon, Benjamin: Afrikanische Kirchen in Deutschland, Frankfurt a.M. 2003.

Simon, Benjamin: Ethnisch geprägte unabhängige Gemeinden und ihr Verhältnis zu den etablierten (Frei-)Kirchen, in: FreikirchenForschung Nr. 22, 2013, hg. vom Verein für Freikirchenforschung e.V., Münster 2013, 22-34.

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