Theosis

Theosis als charakteristisches Merkmal der orthodoxen Theologie

„Theosis – Das Ziel des Menschenlebens“ so lautet der Titel eines vor einigen Jahren in Griechenland erschienenen Buches, und in der Tat ist es nicht übertrieben zu sagen, dass Theosis der zentrale Begriff der orthodoxen Erlösungslehre und – im ökumenischen Kontext – ein Spezifikum der orthodoxen Kirche und ihrer Soteriologie ist. Es handelt sich dabei um ein primäres religiöses Ideal, eben das letzte Ziel, dem alle Menschen zustreben sollten.

Der griechische Begriff Theosis wird heutzutage im Deutschen mit Vergöttlichung wiedergegeben und löst theologiegeschichtlich den griechischen Terminus „Theopoiesis“ ab, der – ebenso wie das früher im Deutschen verwendete „Vergottung“ – missverstanden werden könnte, als ob der von Gott aus dem Nichtsein ins Dasein gerufene Mensch mit diesem – seiner Natur nach – unerreichbaren Gott ontologisch (wesensmäßig) gleichwerden könne. Vielmehr „geht die orthodoxe Theologie von der göttlichen Barmherzigkeit aus, die dem Menschen die Vergöttlichung als Teilhabe am Ursprung seiner Existenz in einem Prozess des gnadenhaften Gott-Werdens ermöglicht“ (Anastasios Kallis).

Dieser Prozess ist nach orthodoxem Verständnis trinitarisch und christologisch zugleich, da es zum einen um das Ähnlichwerden mit Gott, dem Vater und Schöpfer der Menschheit und des sichtbaren und unsichtbaren Universums durch die Vermittlung des menschgewordenen Logos, Christus, im Heiligen Geist geht. Für diesen trinitarischen Aspekt der orthodoxen Lehre von der Vergöttlichung ist der biblische Schöpfungsbericht, demzufolge Gott den Menschen nach seinem „Bild und Gleichnis“ schuf (Gen 1,26) maßgeblich. Ausgehend von der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, unterscheidet die orthodoxe Theologie bei der Gottebenbildlichkeit des Menschen zwischen dem Sein (kat‘ eikona = nach dem Bild) und dem Ähnlichwerden (kat‘ omoiosin = nach der Ähnlichkeit) im Sinne einer Bilddynamik, d. h. einer dynamischen Beziehung des Menschen zu Gott, zu dem er sich als dessen Ebenbild hinbewegt.

Zum anderen ist es erst die Inkarnation des Logos, welche das gnadenhafte (kata charin) Wiederfinden der durch den Sündenfall des Menschen verlorenen Ähnlichkeit Gottes ermöglicht, gemäß dem vielzitierten Wort des Kirchenvaters Athanasios des Großen „Der Logos wurde Mensch, damit wir vergöttlicht werden“ (De incarnatione 54).

In der orthodoxen Theologie ist das Heil also nicht statisch, sondern dynamisch; es ist kein abgeschlossener Zustand, ein Zustand, angekommen zu sein, ein Zustand, es geschafft zu haben, sondern eine ständige Bewegung in Richtung Theosis, dahin, wie Christus zu werden und die Fülle von Gottes Leben zu empfangen. Orthodoxe Theologen sprechen von zwei Aspekten der Erlösung: negativ und positiv. Die negative Dimension der Erlösung ist die der Befreiung vom Zustand eines unauthentischen Lebens, vom Zustand also des Verfalls der geschaffenen Natur. Die Befreiung daraus wird als Erlösung und Rechtfertigung bezeichnet. Die positive Dimension ist die der Heiligung und Theosis. Die orthodoxe Kirche hat dabei immer mehr diesen positiven Aspekt der Erlösung betont, der die Erneuerung und Wiederherstellung des Ebenbildes Gottes im Menschen, die Annahme der gefallenen Menschheit durch Christus in einer Bewegung hin zum Leben Gottes hinein bedeutet. Deshalb ist die zentrale Frage der orthodoxen Soteriologie nicht „Erlösung wovon?“, sondern „Erlösung wofür?“. Dabei gilt es festzuhalten, dass in der orthodoxen Kirche die Soteriologie, wie bereits in der Alten Kirche, nicht den Status eines Dogmas wie die Christologie oder Trinitätslehre innehat. Sie wurde vielmehr vorrangig als eine liturgische Lehre angesehen, die eher zu der im Ritual artikulierten „Gebetsregel“ als zu der in der Dogmatik artikulierten „Glaubensregel“ gehört.


Hauptunterschiede zwischen östlicher und westlicher Soteriologie

Der Westen war schon immer eher geneigt, in seiner Herangehensweise an die Erlösung juristisch, ja forensisch (wie vor einem Gericht) zu sein, da das Verhältnis Mensch-Gott vorwiegend unter dem Aspekt der Gerechtigkeit Gottes betrachtet wurde. Nach John Meyendorff war die Tendenz des lateinischen Denkens, wie sie sich bereits bei Tertullian zeigt, „Christus vor allem als Mittler zwischen Gott und den Menschen zu sehen“. Dieses Verständnis von Erlösung basierte also eher auf der Idee der Versöhnung als auf der östlichen Idee der Theosis. Eine (eher) juristische Heilstheorie wird von orthodoxen Theologen fast ausnahmslos abgelehnt, denn es erscheint zu einfach, das erhabene und mystische Heilswerk Gottes nach Art eines Gerichtsverfahrens oder eines Duells zu deuten. Vielmehr herrscht die apophatische Auffassung vor, dass es rational immer ein Rätsel bleibe, wie der Kreuzestod des Erlösers Tod und Sünde besiegt hat; diese Auffassung sei angemessener, als das Erlösungswerk mit einem Prozess o.ä. zu vergleichen. Am weitesten in seiner Kritik an westlicher Theologie geht Christos Yannaras, wenn er das Schema „Schuld – Erlösung – Rechtfertigung“ als typisches Symptom einer „Naturreligion“ bezeichnet, was der christlichen Kirche „buchstäblich unkalkulierbare“ Schwierigkeiten gebracht habe.


Theosis und Energienlehre

Eine besondere Bedeutung erlangte die Theosis-Theologie in spätbyzantinischer Zeit, als Gregor Palamas (+1359) zwischen dem ungeschaffenen Wesen Gottes (ousia) und seinen – ebenfalls ungeschaffenen – Wirkkräften (energeiai) unterschied. Während Ersteres dem Menschen unzugänglich bleibt, sind Letztere durch göttliche Gnade erfahrbar. Diese Teilhabe, die Palamas als Schau des „ungeschaffenen Tabor-Lichtes“ bezeichnet, ist die durch menschliche Askese und göttliche Erleuchtung erlangte Theosis. Diese ist demzufolge der Übergang des Menschen von den erschaffenen Dingen zu den ungeschaffenen göttlichen Energien. Doch nicht einmal die göttlichen Energien empfangen wir in ihrer Gesamtheit, da sie sich ständig in immer neuen Gestalten manifestieren. Maßgeblich für die palamitische Theologie war die Auseindersetzung mit dem westlichen Theologen Barlaam von Kalabrien (+1348) und anderen. Der Einfluss des Palamas auf die orthodoxe Theologie ist im Übrigen bis heute ungebrochen.


Theosis versus Rechtfertigung

Jenseits dieser östlich-westlichen Polemik stellt sich im ökumenischen Dialog allerdings immer öfter die Frage, ob die Begriffe „Rechtfertigung“ als Schlüsselbegriff des evangelisch-katholischen Dialogs und „Theosis“ sozusagen als östliches Pendant dazu nicht dasselbe meinen. Im 2019 – zwanzig Jahre nach der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ – veröffentlichten Wort des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses (DÖSTA) heißt es etwa: „Die Orthodoxen Kirchen greifen, um ihre Heilslehre auszudrücken, in der Regel nicht auf den Begriff ‚Rechtfertigung‘ zurück, sondern sprechen in Übereinstimmung mit den (vor allem griechischen) Vätern eher von Vergöttlichung (Theosis) und Heiligung. Sie können sich aber dem Inhalt der ‚Gemeinsamen Erklärung‘ insofern anschließen, als diese eine gemeinsame Überzeugung aller Orthodoxen Kirchen zum Ausdruck bringt, nämlich, dass das Heil der Menschen nicht durch ihre Werke vermittelt wird, sondern durch das, was Jesus für uns getan hat, vor allem durch seinen Tod und seine Auferstehung. Sie sehen, dass die Schriften des Neuen Testaments mehrere Interpretationen des Heilsgeschehens kennen, die einander nicht ausschließen, sondern das Unerschöpfliche des göttlichen Heilsmysteriums veranschaulichen.“

Es überrascht deshalb nicht, dass die Theosis-Frage Gegenstand zahlreicher theologischer Dialoge zwischen den Kirchen der Reformation und der Orthodoxie gewesen ist. Den immer wieder referierten Umstand, dass es sich womöglich bei den Begriffen Theosis und Rechtfertigung um zwei sich entsprechende Paradigmen (Erklärungsmodelle) östlicher und westlicher Diktion handelt, resümiert der lutherische Theologe Georg Kretschmar folgendermaßen: „Man hat gemeint, der Rechtfertigungslehre entspräche die Aussage, dass Gott Mensch geworden ist, damit wir wahre Menschen würden, jedenfalls besser als der irenäisch-athanasianische Satz von der Vergottung als Ziel der Inkarnation. Aber beide Sätze widersprechen einander doch nicht. Der wahre Mensch ist eben der Mensch, dem Christus Anteil an sich selbst gibt – das ist Rechtfertigung und das ist Theosis.“


Ökumenische Implikation

Durch ihre Lehre vom Menschen, der nach dem Bild Gottes und zu seiner Ähnlichkeit erschaffen wurde und dessen lebenslanger Auftrag das Erlangen der Theosis ist, bekräftigt die orthodoxe Theologie, dass der christliche Glaube tatsächlich eine ontologische Veränderung im menschlichen Leben impliziert, bewirkt und erfordert. Deshalb kann und wird der ökumenische Diskurs auch in Zukunft diesen zentralen Begriff orthodoxer Theologie berücksichtigen.

Radu Constantin Miron


Literatur

  • Meyendorff, John: Theosis in der östlichen christlichen Tradition, in: Geschichte der christlichen Spiritualität, Bd. 3: Die Zeit nach der Reformation bis zur Gegenwart, hg. v. L. Dupré und E. Saliers, Würzburg, 1997, 489- 496.
  • Oeldemann, Johannes: Rechtfertigung und Theosis im Kontext des ökumenischen Dialogs mit der Orthodoxie, in: Catholica 56 (2002) 173-192.
  • Rechtfertigung und Verherrlichung (Theosis) des Menschen durch Jesus Christus. Fünfter bilateraler theologischer Dialog zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 18. bis 27. Mai 1988 im Kloster Kirchberg/Sulz am Neckar, hg. v. K. Schwarz, Hermannsburg 1995.
  • Theosis, in: Eastern Christianity in Its Texts, hg. v. Cyril Hovorun, London/New York 2022, 374-382.
  • Von Gott angenommen – in Christus verwandelt. Die Rechtfertigungslehre im multilateralen ökumenischen Dialog (Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 78), hg. v. Uwe Swarat – Johannes Oeldemann – Dagmar Heller, Frankfurt/Main 2006.

 

Internetquellen

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