Ökumenische Gemeinschaften

Situation in der Gegenwart

Die Geschichte geistlicher Lebensgemeinschaften geht bis auf die Jerusalemer Urgemeinde zurück (Apg 2). Die Christentumsgeschichte kennt seitdem zahlreiche Beispiele von Menschen, die ihren bisherigen Lebenskontext verließen, geistliche Gemeinschaften gründeten oder sich solchen anschlossen. Ökumenische Gemeinschaften (auch: ökumenische Kommunitäten) entstanden im Wesentlichen im Lauf des 20. Jahrhunderts und sind Teil der ökumenischen Bewegung. Die einzelnen Gemeinschaften sind jedoch sehr unterschiedlich. Die Mitglieder mancher Gemeinschaften leben klösterlich zusammen, andere verstehen sich eher als Netzwerk von Menschen, die aus der gleichen Spiritualität leben. Meist steht das Gebet und das geistliche Leben im Mittelpunkt. Einige verstehen sich schwerpunktmäßig als missionarisch, einige agieren vor allem sozial-karitativ oder politisch, einigen ist das (kontemplative ) Gebet besonders wichtig, bei anderen steht der Gästeempfang im Mittelpunkt. 


1. Profile ökumenischer Gemeinschaften 
Bei den meisten ökumenischen Gemeinschaften stammen die Mitglieder aus verschiedenen Konfessionen oder Traditionen und bleiben bei Eintritt Teil ihrer Ursprungskonfession. 
Es lassen sich verschiedene Gemeinschaftstypen unterscheiden: Zum einen gibt es Gemeinschaften, in denen Schwestern oder/und Brüder nach klösterlichen Regeln zusammenleben. Aus der ost- wie westkirchlichen monastischen Tradition speist sich die Spiritualität des Monastero di Bose: Etwa achtzig Schwestern und Brüder aus verschiedenen Konfessionen, orthodoxe, römisch-katholische wie reformierte, leben heute in dem italienischen Kloster nach einer einfachen Lebensform, die von Gebet und Arbeit bestimmt ist, zusammen. Großer Bekannt- und Beliebtheit erfreut sich die Communauté de Taizé im französischen Burgund. An die hundert katholische wie evangelische Brüder aus über 25 Ländern gehören heute der Kommunität an, die einst von dem reformierten Theologen Roger Schutz  gegründet wurde. Heute ist Taizé ein Zentrum internationaler Jugendbegegnungen. Ebenfalls nach der Regel von Taizé leben die Schwestern der monastischen Gemeinschaft von Grandchamp, gelegen am Ufer des Neuchâteler Sees. In dieser internationalen Gemeinschaft leben Schwestern aus verschiedenen christlichen Traditionen zusammen und lassen ihr Leben vom Gebet und Gästeempfang prägen. 

Daneben gibt es ökumenische Gemeinschaften, in denen Menschen in verschiedenen Lebensständen, also auch Ehepaare, Alleinstehende und Familien gemeinsam ein verbindliches Leben nach dem Evangelium gestalten. Das Kloster Gnadenthal ist Zentrum der Ökumenischen Kommunität Jesus-Bruderschaft, zu dem neben Schwestern und Brüdern auch eine Familiengemeinschaft gehört. Die Gemeinschaft gründet sich u.a. auf das Gebet Jesu, dass alle eins seien (Joh 17,21). Das Miteinander der verschiedenen Lebensformen wird auch in der Gemeinschaft Chemin Neuf („Neuer Weg“) gelebt, die Teil der charismatischen Erneuerungsbewegung ist. Chemin Neuf ist eine Gemeinschaft innerhalb der römisch-katholischen Kirche mit einer starken Ausrichtung auf die Einheit und Erneuerung der Kirche. Die „Lebensgemeinschaft für die Einheit der Christen“, die die Arbeit in der Begegnungsstätte Schloss Craheim verantwortet, setzt sich u.a. mit einem vielfältigen Tagungsprogramm ebenfalls für die geistliche Erneuerung der Kirche wie die Einheit der Christen ein. 21 Menschen aus verschiedenen evangelischen Landes- und Freikirchen und aus der katholischen Kirche leben hier aktuell zusammen. Der Laurentiuskonvent (in Wethen, Laufdorf und Hamburg) legt einen Schwerpunkt auf das soziale und politische Engagement, insbesondere im konziliaren Prozess  für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Seit 2007 engagiert sich der Konvent u.a. beim Aufbau des Ökumenischen Forum HafenCity, einem Ort des Gebets, der Gastfreundschaft und des gemeinsamen Engagements. 

Darüber hinaus gibt es Gemeinschaften, in denen Menschen in einer gemeinsamen Spiritualität verbunden sind, ohne zwingend gemeinsam an einem Ort zu leben. Viele ökumenische Gemeinschaften kennen auch abgestufte Formen der Zugehörigkeit. Eine Gemeinschaft mit „vielen Gesichtern“ ist die Fokolar-Bewegung bei der von einer Bindung mit lebenslangen Gelübden bis zum Engagement in einzelnen Projekten alles denkbar ist. Zu dieser in der römisch-katholischen Kirche entstandenen Bewegung fühlen sich heute etwa 120.000 Menschen aus über 350 verschiedenen Kirchen weltweit sowie Menschen ohne religiöses Bekenntnis oder aus anderen Religionen zugehörig. Das Leitwort Jesu, „dass alle eins seien“ (Joh 17,21), führt zu einem Engagement für Einheit, Frieden, Verständigung und Geschwisterlichkeit über alle Grenzen hinweg. Die Fokolar-Bewegung rief in der Nähe von Augsburg gemeinsam mit der überkonfessionellen Bruderschaft vom gemeinsamen Leben (heute: Vereinigung vom gemeinsamen Leben) das Ökumenische Lebenszentrum Ottmaring ins Leben. Es soll hier erfahrbar werden, wie Verschiedenheit zu einem Reichtum wird und wie das Evangelium alle Lebensbereiche prägt. 
Aus dem Anliegen, eine mittelalterliche Abtei auf der schottischen Insel Iona zu restaurieren und dort gemeinschaftliches Leben aufzubauen, erwuchs Anfang des 20. Jahrhunderts die Vision, sich für die Erneuerung der Kirche, die Ökumene, aber auch soziale und politische Veränderungen einzusetzen. Hieraus entstand die Iona Community, eine ökumenische Kommunität, zu der heute etwa 260 Mitglieder, 1600 assoziierte Mitglieder und 1600 Freunde gehören, die in unterschiedlichen Lebensformen nach neuen Wegen suchen, das Evangelium in der heutigen Welt zu leben. Die Kommunität strahlt weit über Schottland hinaus.

In der römisch-katholischen Kirche entstanden ist die Laiengemeinschaft Sant'Egidio, in der sich heute Männer und Frauen in über 70 Ländern engagieren: Das Hören auf das Wort Gottes und der Einsatz für die Armen, für den Frieden und ein geschwisterliches Miteinander aller Menschen sind die Hauptanliegen. 
Zu etlichen Kommunitäten gehört ein fester Kreis an Menschen, die sich der Gemeinschaft verbunden fühlen, diese je nach eigener Lebenssituation unterstützen und aus der gleichen Spiritualität ihr Leben gestalten, ohne dauerhaft in der Gemeinschaft zu leben: Oft wird von einer Oblatenschaft, von Drittorden, einer Weggemeinschaft oder einem Freundeskreis gesprochen. 
Da sich Ökumenische Gemeinschaften als Teil des weltweiten Christentums verstehen, gehören zu ihnen Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen; nicht wenige verfügen über außereuropäische Standorte wie die Brüder aus Taizé mit sogenannten Fraternitäten in Afrika, Asien und Lateinamerika. 
 


Geschichte

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einzelne Vorreiter. Die Anfänge der Iona-Community liegen in den 1930er-Jahren (1938), nur wenig später entstand in Trient die Fokolar-Bewegung durch die Initiative von Chiara Lubich  (1943).
Einen großen Aufschwung erfuhr die Gemeinschaftsbewegung dann vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg: Zum einen entstanden Gemeinschaften direkt aus den Kriegswirren und dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten heraus. Die Gemeinschaft von Taizé erwuchs aus der Aufnahme von Flüchtlingen durch Roger Schutz, dem sich nach und nach weitere junge Männer anschlossen. Vielerorts waren nach dem Krieg Menschen auf der Suche nach Orientierung, nach einem Halt in Gemeinschaft und einer glaubwürdigen Spiritualität – eine Sehnsucht, die auch auf evangelischer Seite, in der Gründung etlicher Kommunitäten ihren Ausdruck fand (z.B. die Communität Christusbruderschaft Selbitz 1949, die Communität Casteller Ring 1950 oder die Kommunität Imshausen 1957). Dietrich Bonhoeffers Buch „Gemeinsames Leben“ (1939) wurde für viele zur Inspirationsquelle. 

Neuen Antrieb bekam die Gemeinschaftsbewegung schließlich durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965), das vor allem römisch-katholischen Christinnen und Christen neue Freiheiten eröffnete und einen geistlichen Ökumenismus förderte: 1965 beschloss Enzo Bianchi in Bose ein offenes Haus für Gäste zu gründen und sich ganz dem Gebet und geistlichen Leben zu widmen . Drei Jahre später kamen die ersten Mitbrüder – von Anfang an aus verschiedenen Konfessionen. Die Gemeinschaft Sant’Egidio wurde 1968 in Rom durch Andrea Riccardi gegründet, Chemin Neuf entstand 1973 aus einer Lyoner Gebetsgruppe rund um den Jesuitenpater Laurent Fabre.  
 


Glaubens- und Gemeindeleben

Bei aller Vielfalt lassen sich fünf prägende Elemente ökumenischer Gemeinschaften ausmachen:

1. Gemeinsames Leben ist bereichernd und herausfordernd zugleich. Das gilt in besonderem Maße, wenn Menschen aus verschiedenen Konfessionen beieinander leben. Viele Gemeinschaften verfügen über eine eigene Regel, die als Richtlinie für das gemeinsame Leben gilt. Das benediktinische Grundprinzip „ora et labora“ („bete und arbeite“) setzt sich vielerorts in unterschiedlicher Ausprägung fort.

2. Tagzeitengebete, die Feier der Eucharistie, das (gemeinsame) Lesen in der Bibel, Zeiten der Stille und der Anbetung sind Teil des kommunitären Lebens. Gemeinschaften sind für viele Menschen Orte, an denen geistliches Leben eingeübt und die eigene Frömmigkeit inspiriert wird. Die Spiritualität vieler Kommunitäten strahlt in Gemeinden hinaus (z.B. Taizé-Gebete oder Gottesdienste nach der Spiritualität von Iona).  

3. Die evangelischen Räte „Armut, Keuschheit und Gehorsam“ sind vielerorts Grundlage des Lebens: Einige haben sich für ein zölibatäres Leben und ein Leben in Gütergemeinschaft entschieden, um durch ihre tiefe Bindung an Jesus Christus frei zu sein für Gott und die Mitmenschen. Auch in anderen Gemeinschaften dienen die evangelischen Räte als Inspiration: Treue im Glauben, eine gelebte Verbindlichkeit mit der Gemeinschaft und ein materiell einfaches Leben, das mit bewusstem und fairem Konsum und einer gelebten Solidarität mit Bedürftigen einhergeht, sollen das Leben prägen. 

4. Diakonisches, gesellschaftliches, politisches oder kulturelles Engagement hat in vielen Gemeinschaften einen hohen Stellenwert. Die Mitglieder des Laurentiuskonvents, der Fokolar-Bewegung oder der Kommunität Iona setzen sich z.B. besonders für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung ein. Die Gemeinschaft Sant'Egidio legt viel Wert auf die Freundschaft mit Bedürftigen, z.B. mit alten Menschen, Obdachlosen, Migranten, Menschen mit Behinderung, Gefangenen und Straßenkindern. Hinzu kommt der Einsatz für den Frieden auf interreligiösen Friedenstreffen. 

5. In vielen Gemeinschaften stellt der Gästeempfang eine wichtige Säule dar. In Taizé kommen jedes Jahr Tausende von meist jungen Menschen aus aller Welt zusammen, um für eine gewisse Zeit in der Gemeinschaft zu leben. Das Format „Kloster auf Zeit“ erfreut sich vielerorts an Beliebtheit. Kommunitäten sind für viele Menschen geistliche Oasen, an denen sie innerlich wieder zu Gott, zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen finden. 


Ökumene

Die meisten Gemeinschaften, die in der klösterlichen Tradition wurzeln, haben Elemente aus anderen Konfessionen aufgenommen. Die Evangelische Michaelsbruderschaft und die Berneuchener Bewegung haben als Teil der Liturgischen Bewegung wesentlich zur Wiederentdeckung des Stundengebets und der evangelischen Messe und somit zur Wahrnehmung vieler Konvergenzen mit der römisch-katholischen Kirche beigetragen. Die Schwestern der evangelischen Communität Casteller Ring sind in der benediktinischen Tradition verankert, die Christusbruderschaft Selbitz steht der franziskanischen Spiritualität nahe – beide stehen in engem Austausch mit römisch-katholischen Klöstern. Das ökumenische Netzwerk „Miteinander für Europa“ verbindet europaweit mehr als 300 christliche Gemeinschaften und Bewegungen aus verschiedenen Kirchen, um sich für gemeinsame Ziele einzusetzen, und zeugt von einem regen ökumenischen Austausch vieler Gemeinschaften und Bewegungen.
In ökumenischen Gemeinschaften kommen oft Menschen zusammen, die sich von der gleichen Spiritualität ansprechen lassen. Dabei sind nicht mehr die klassischen Konfessionen das Verbindende, denn die charismatische Bewegung kennt ebenso wenig konfessionelle Grenzen wie die Entdeckung des kontemplativen Gebets und der Meditation oder das politische, gesellschaftliche und soziale Engagement. Die charismatische Gemeinschaft Emmanuel oder die Gebetshausbewegung (z.B. das Gebetshaus in Augsburg) ziehen daher konfessionsübergreifend Menschen an. In vielen Kommunitäten werden gemeinsame Traditionen wie das Herzensgebet oder Exerzitien in ökumenischer Weite praktiziert. Einstige Vertreter der Gegenreformation wie Ignatius von Loyola werden heute von Menschen vieler Konfessionen als Impulsgeber für die eigene Spiritualität wahrgenommen. 
Die gelebte und oft selbstverständlich gewordene Ökumene in den Gemeinschaften steht bisweilen in Spannung zu den offiziellen ökumenischen Dialogen. Dazu gehört z.B. die Frage nach einer gemeinsamen Feier des Abendmahls, die in ökumenischen Gemeinschaften besonders dringlich ist. Sie wird vor Ort unterschiedlich gelöst: Während in manchen Gemeinschaften ungeachtet des offiziellen Stands ökumenischer Dialoge gemeinsam das Abendmahl gefeiert wird, halten andere den Schmerz der Trennung am Tisch des Herrn bewusst aus und vereinen sich im Gebet um Einheit.
Nicht zuletzt sind ökumenische Gemeinschaften für alle Christinnen und Christen ein Zeichen dafür, dass ein christliches Leben jenseits von Individualisierung, Konkurrenzkampf und Konsum nicht nur denkbar, sondern lohnend ist. 

Hanne Lamparter

gegengelesen von Andrea Rösch


Literatur

  • Kloster auf evangelisch: Berichte aus dem gemeinsamen Leben, hg. u.a. von Anna-Maria aus der Wiesche und Frank Lilie, Münsterschwarzach 2016. 
  • Kommunitäten: In Gemeinschaften anders leben. Jahrbuch Mission 2007, Hamburg 2007. 
  • Orte lebendigen Glaubens: Neue geistliche Gemeinschaften in der katholischen Kirche, hg. v. Joachim Müller und Oswald Krienbühl, Freiburg/Konstanz 1987.
  • Verbindlich leben. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ein Votum des Rates der EKD zur Stärkung evangelischer Spiritualität, EKD-Texte 88, Hannover 2007.
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