Konziliarer Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung

Begriffsdefinition/-erklärung

Auf der 6. Vollversammlung des ÖRK 1983 in Vancouver (Kanada) wurden die Mitgliedskirchen aufgefordert, in einen konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einzutreten. Die Trias der Themen griff die aktuellen Herausforderungen auf: Die Verschuldung der Länder im globalen Süden und die wachsende Ungerechtigkeit der Weltwirtschaft, die atomare Bedrohung durch das Wettrüsten und der Raubbau an der Natur. Unter den Bedingungen in der DDR waren diese Krisen besonders spürbar, wobei die Ungerechtigkeit vor allem als Beschränkung der eigenen Freiheit erfahren wurde. Nicht von ungefähr wurden die Themen des konziliaren Prozesses hier mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen.


Geschichte

So war es der Erfurter Propst Heino Falcke, der den Antrag zu einem Friedenskonzil, die Idee von Carl Friedrich von Weizsäcker aufgreifend, auf der Vollversammlung in Vancouver einbrachte. Der Gedanke eines Friedenskonzils war bereits fünf Jahrzehnte zuvor von Dietrich Bonhoeffer eindrucksvoll formuliert worden. In seiner berühmten Rede auf der Ökumenischen Jugendkonferenz des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen auf der Insel Fanø/Dänemark im Jahr 1934 sagte Bonhoeffer: Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und dass die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt. …. Wir wollen reden zu dieser Welt, kein halbes, sondern ein ganzes Wort, ein mutiges Wort, ein christliches Wort. Wir wollen beten, dass uns dieses Wort gegeben werde, – heute noch – wer weiß, ob wir uns im nächsten Jahr noch wiederfinden?
In Anlehnung an Bonhoeffer wurde auf der 4. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1968 in Uppsala die Hoffnung ausgesprochen, „dass ein wirklich universales Konzil wieder für alle Christen sprechen und den Weg in die Zukunft weisen kann.“

Allerdings war auf Grund der sehr unterschiedlichen Kirchenverständnisse der Gedanke eines universalen ökumenischen Konzils nicht umsetzbar. Stattdessen rief die Vollversammlung 1983 zu einem konziliaren Prozess auf, in dem sich die Kirchen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einsetzen sollten. Dabei war der Fokus auf die sozial-ethischen Herausforderungen gerichtet. Mit den Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung waren zentrale Begriffe christlichen Glaubens benannt, die in engem, sich gegenseitig bedingendem Zusammenhang stehen.

Der Impuls der 6. Vollversammlung in Vancouver traf im geteilten Deutschland auf besondere Aufmerksamkeit. An der Trennlinie von Ost und West wurde gerade die atomare Bedrohung mit besonderer Sensibilität wahrgenommen. Es war im Westen Deutschlands die Zeit der großen Demonstrationen der Friedensbewegung. In der DDR entstanden viele Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen. Diese Gruppen fanden unter dem Dach der Kirche einen gewissen Schutz. Mit dem Aufruf von Vancouver waren die Kirchen herausgefordert, sich auch diesem Engagement der Gruppen zu stellen.

Einen Höhepunkt erreichte der konziliare Prozess mit den ökumenischen Versammlungen in Dresden und Magdeburg 1988/89. Hier fanden sich auf Ebene der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) nahezu alle christlichen Konfessionen zusammen, um in der krisenhaften Situation, weltweit und in der DDR, zu einem gemeinsamen Wort zu finden. Die Gemeinden waren aufgefordert ihre Sorgen und Nöte, ihre Erwartungen und Hoffnungen zu benennen. Das führte zu einem erstaunlichen und bisher einmaligen Echo: Die Ökumenische Versammlung musste über 10.000 Zuschriften sichten und verarbeiten. Im April 1989 wurde das Abschlussdokument in der Dresdner Kreuzkirche verabschiedet. Es trägt den Titel „Eine Hoffnung lernt gehen.“ Der konziliare Prozess hatte sich in einer konkreten Situation als wirkungsvoll erwiesen. Er hatte die konkreten Herausforderungen und Probleme fokussiert und sich dabei nicht von staatlichen Einmischungsversuchen beeindrucken lassen. Zugleich erwies er sich als lebendiges Zeugnis des christlichen Glaubens, indem er die theologische Grundlegung gemeinsam formulierte: Gottes Ruf zur Umkehr in den Schalom und der Bund Gottes als Grund und Auftrag (siehe Abschlussdokument). Das ist als ökumenisches Ereignis zu würdigen. Aus historischer Sicht war dies der Beitrag der Kirchen zur friedlichen Revolution, die Deutschland und die Welt 1989 veränderte.
Im Mai 1989 hatte die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und der Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) unter dem Motto „Frieden in Gerechtigkeit“ zur 1. Europäischen Ökumenischen Versammlung nach Basel eingeladen. Eine Vielzahl von Initiativen und Basisgruppen begleitete diese Versammlung. Es wurde sichtbar, dass der konziliare Prozess von vielen Gruppen und Gemeinden in den Kirchen wahrgenommen und aufgegriffen wurde.

Im März 1990 fand die Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Seoul statt. Diese Versammlung formulierte Zehn Grundüberzeugungen (Affirmationen) zu den drei Themen und benannte konkrete Handlungsoptionen. Das Glaubensbekenntnis von Seoul (s. u.) hat in die liturgische Praxis der Kirchen in Deutschland Eingang gefunden und wird oft bei Friedensgottesdiensten oder Friedensandachten gebetet.

Die 2. Europäische Ökumenische Versammlung kam in Graz zusammen. Das Motto lautete: „Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle des Lebens“. Diese Versammlung erteilte den Auftrag, eine Charta Oecumenica (ChOe) zu erstellen, die die Kirchen in Europa zu gemeinsamem Handeln verpflichtet. Die ChOe, die 2001 verabschiedet wurde, verstärkte die ekklesiologische Dimension des konziliaren Prozesses.

Nachdem die beiden ersten Versammlungen in Basel und in Graz im protestantischen Kontext der Schweiz und im römisch-katholischen Kontext von Österreich tagten, fand die 3. Europäische Ökumenische Versammlung in Sibiu/Hermannstadt im orthodox geprägten Rumänien statt. Delegierte aus den Kirchen trafen sich unter dem Motto „Das Licht Christi scheint auf alle“. Die Versammlung rief zu besonderem Engagement für die Bewahrung der Schöpfung auf. Die Kirchen wurden gebeten, einen Tag der Schöpfung in ihre liturgischen Kalender aufzunehmen bzw. eine Schöpfungszeit vom 1. September bis 4. Oktober einzuführen. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) folgte diesem Aufruf und feiert seit 2010 gemeinsam mit den Mitgliedskirchen jeweils am ersten Freitag im September den Tag der Schöpfung. Viele regionale ACKs folgen diesem Beispiel, und auch auf lokaler Ebene hat dieser neu eingeführte Tag Eingang in die Gemeindepraxis gefunden.

Im Mai 2011 lud der ÖRK unter dem Motto „Ehre sei Gott und Friede auf Erden“ zu einer Friedenskonvokation nach Kingston/Jamaika ein. Das Treffen von 1000 Delegierten war zugleich der Abschluss der Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt (2001-2011). Die Versammlung befasste sich mit dem Leitbild des „gerechten Friedens“.


Aktualität bis heute

Nach vier Jahrzehnten des Konziliaren Prozesses haben dessen Themen nichts an Brisanz und Dringlichkeit verloren. Einige Fortschritte, wie zum Beispiel Verbesserung der Umweltverhältnisse in Deutschland, stehen jedoch den noch größeren Herausforderungen des Klimawandels gegenüber. Abrüstungsverträge der 80er Jahre waren Zeichen der Hoffnung. Aber nach Auslaufen der Verträge droht ein neues Wettrüsten. Mit den Sustainable Development Goals (SDG, Ziele für nachhaltige Entwicklung) sind anspruchsvolle Aufgaben benannt, die Wirklichkeit bleibt aber hinter den Zielen zurück. Das aktuelle Weltgeschehen scheint bisherige Erfolge zunichte zu machen. So gefährdet der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht nur die europäische Sicherheitsarchitektur, sondern auch die weltweite Ernährungssicherheit. Die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan nimmt den Frauen dieses Landes elementarste Menschenrechte. Extreme Wetterereignisse wie Waldbrände und Überschwemmungen lassen die Folgen des Klimawandels für jeden und jede sichtbar werden.

In dieser Weltlage formulieren die Kirchen Erwartungen und Hoffnungen und arbeiten mit ihren weltweiten und lokalen Hilfswerken an deren Umsetzung. Die hier benannten Versammlungen rufen zu einem gemeinsamen Handeln auf, eben zu einem konziliaren Prozess. An der Basis der Kirchen in Gemeinden und Gruppen sind die Themen dieses Prozesses lebendig. Kirchliche Gruppen und andere zivilgesellschaftliche Akteure engagieren sich. Ökumene-Zentren leisten wichtige Bildungsarbeit. Mit der Bewegung Fridays for Future mahnt besonders die Jugend schnelles und konsequentes Handeln an. In kirchlichen Friedensdiensten wie Aktion Sühnezeichen engagieren sich Jugendliche für Versöhnung. Die Friedensdekade ist eine feste Zeit, die der Besinnung und dem Gebet für den Frieden dient und im gemeindlichen Leben integriert ist.

Die Themen des Konziliaren Prozesses, auch in ihrer Ausdifferenzierung, haben nichts an Dringlichkeit verloren. Der Begriff „Konziliarer Prozess“ wird allerdings selten verwendet. Er ist eher innerkirchlich Engagierten bekannt. Dennoch ist es sinnvoll, ihn auch nach vier Jahrzehnten zu nutzen. Er mahnt das gemeinsame ökumenische Handeln der Kirchen an und erinnert an die theologische Grundlegung. Der Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ist ein Handeln aus Glauben und entspricht der Berufung zum Schalom Gottes.


Das Glaubensbekenntnis der Weltversammlung von Seoul 1990

Wir glauben an Gott,
der die Liebe ist,
und der die Erde allen Menschen geschenkt hat.
Wir glauben nicht an das Recht des Stärkeren,
an die Stärke der Waffen,
an die Macht der Unterdrückung.
Wir glauben an Jesus Christus,
der gekommen ist, uns zu heilen,
und der uns aus allen tödlichen Abhängigkeiten befreit.
Wir glauben nicht, dass Kriege unvermeidlich sind,
dass Friede unerreichbar ist.
Wir glauben an die Gemeinschaft der Heiligen,
die berufen ist, im Dienst aller Menschen zu stehen.
Wir glauben nicht, dass Leiden umsonst sein muss,
dass der Tod das Ende ist,
dass Gott die Zerstörung der Erde gewollt hat.
Wir glauben, dass Gott für die Welt eine Ordnung will,
die auf Gerechtigkeit und Liebe gründet,
und dass alle Männer und Frauen
gleichberechtigte Menschen sind.
Wir glauben an Gottes Verheißung,
Gerechtigkeit und Frieden
für die ganze Menschheit zu errichten.
Wir glauben an Gottes Verheißung eines neuen Himmels
und einer neuen Erde,
wo Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.
Wir glauben an die Schönheit des Einfachen,
an die Liebe mit offenen Händen,
an den Frieden auf Erden.
Amen.

    Friedemann Oehme

 

                                   


Literatur

Brown, Stephen. Von der Unzufriedenheit zum Widerspruch. Der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung als Wegbereiter der friedlichen Revolution in der DDR, Frankfurt a.M. 2010. 

Raiser, Konrad. Umkehr in den Shalom. Heino Falcke und der konziliare Prozess, in. Vordenker, Mahner, Seelsorger, Leipzig 2019.

Reuter, Hans-Richard. Konzil des Friedens, Heidelberg 1987.

Seifert, Katharina. Glaube und Politik. Die Ökumenische Versammlung in der DDR 1988/89, Leipzig 2000.  

von Weizsäcker, Carl Friedrich, Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, München 1986. 

Die Zeit ist da - Schlussdokument und andere texte der weltversamm,ung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, Seoul 1990. 

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