Brüderbewegung in Deutschland

Gegenwärtige Situation

Zur Brüderbewegung zählt man in Deutschland – abgesehen von einigen kleinen Splittergruppen – vier große Gruppierungen. Die Anzahl der Gemeinden verteilt sich auf diese wie folgt: Zu den Geschlossenen Brüdern (GB) gehören ca. 203 Gemeinden und zum ChristusForum (CF; früher Arbeitsgemeinschaft der Brüdergemeinden) im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) 116 Gemeinden mit 11 Stationsgemeinden; dem ChristusForum sind außerdem noch 7 Gemeinden angeschlossen, die nicht Mitglieder im BEFG sind. Weiter gehören ca. 191 Gemeinden zum Freien Brüderkreis (FB); den sog. blockfreien (BF) oder auch unabhängigen Brüdergemeinden werden ca. 67 Gemeinden zugeordnet. Daneben existieren noch ca. 57 Gemeinden, die sich nicht genau auf die beiden letztgenannten Gruppierungen aufteilen lassen (FB oder BF).

Vereinfachend wird hier für alle Gruppierungen der Begriff „Gemeinde“ benutzt. Besonders die Geschlossenen Brüder verwenden ihn aber nicht. Man spricht von „örtlichen Versammlungen“; mitunter wird auch die Formulierung „örtliches Zeugnis der Versammlung in XY“ gebraucht. Man will damit anzeigen, dass es sich hier nicht um eine herkömmliche christliche Denomination handelt, die sich von anderen Gruppen abgrenzt.

Bis auf die Gemeinden, die dem BEFG angehören (lt. Statistik des Bundes: 8973 Mitglieder), existieren für die anderen Gruppierungen keine Mitgliederzahlen, da sie keine eingeschriebene Mitgliedschaft kennen. Stephan Holthaus nennt für diese Gruppen 2008 folgende geschätzte Zahlen: FB ca. 16.000 und GB einschließlich der BF ca. 20.000 Personen.


Geschichte

Alle genannten Gruppierungen beziehen sich auf die Anfänge der Brüderbewegung in Irland und England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zuerst in Dublin (1829), später auch in Plymouth (1832) begannen Christen aus verschiedenen Denominationen, die sich nach einer sichtbaren Gemeinschaft jenseits von konfessionellen Begrenzungen sehnten, mit gemeinsamen Abendmahlsfeiern, die jeden Sonntag abgehalten wurden. Bewusst gab man sich keinen Namen, da man sich nicht als eine neue Glaubensgemeinschaft neben anderen begriff. Bald entstanden auch an anderen Orten derartige Gruppen, für die sich dann der Name „Brethren“ oder auch „Plymouth Brethren“ einbürgerte. 

Wegen unterschiedlicher Ansichten bezüglich der Abendmahlspraxis – offenes oder geschlossenes Abendmahl – und des Miteinanders der verschiedenen örtlichen Gemeinden kam es zur Entstehung zweier Richtungen: zum einen die Geschlossenen Brüder unter der Führung von John Nelson Darby, zum anderen die Offenen Brüder unter der Führung von Georg Müller, dem Begründer der Waisenhausarbeit in Bristol. 

Ab den 1850er-Jahren entstanden in Deutschland geschlossene Brüdergemeinden im Rheinland vornehmlich durch den Juristen Julius Anton von Poseck und in Elberfeld (Wuppertal) vor allem durch den Lehrer Carl Brockhaus. Von Anfang an gab es Kontakte zu Darby, der auch zusammen mit Brockhaus und v. Poseck maßgeblich an der Entstehung der Elberfelder Bibel, einer sehr wortgetreuen Übersetzung, beteiligt war; sie prägt bis heute alle „Brüder“-Richtungen nachhaltig. 

Der Zusammenhalt der GB wurde durch sog. „Reisebrüder“ gefördert, die die einzelnen Gemeinden systematisch besuchten. Diesem Ziel dienten auch Bibelkonferenzen, durch die das spezifische Gedankengut der „Brüder“ an diejenigen weitergegeben wurde, die in den einzelnen Gemeinden den Predigtdienst versahen.

In den 1880er-Jahren entstanden in Deutschland – vornehmlich aufgrund von missionarischen Bemühungen aus England – auch örtliche Gemeinden der Offenen Brüder. Sie vertraten im Gegensatz zu den GB ein kongregationalistisches Gemeindemodell.

1937 wurden die GB von der Gestapo verboten, weil sie angeblich – so die Einschätzung des NS-Regimes – jegliche Mitarbeit im NS-Staat und seiner Kultur verweigerten. Nachdem man aber erkennen musste, dass dies nicht zutraf, da viele „Brüder“ glaubhaft machen konnten, sich durchaus im Sinne des Regimes zu engagieren, und sogar auf NSDAP-Mitgliedschaften verweisen konnten, erlaubte man den Kräften, die als loyal eingeschätzt wurden, die Gründung des Bundes freikirchlicher Christen (BfC) mit einem Reichsbeauftragten an der Spitze und Ortsbeauftragten in jeder Gemeinde. Diesem Bund schlossen sich fast 90% der Angehörigen der GB an. Diejenigen, die den Beitritt ablehnten, hielten illegale Zusammenkünfte ab. Es fanden immer wieder Ermittlungen statt, die besonders in den 1940er-Jahren zu Verurteilungen (Gefängnis- und Geldstrafen) führten, die aber meistens ausgesetzt wurden. 1937/38 traten auch die Offenen Brüder dem BfC bei. Er vereinigte sich dann 1941/42 mit den Baptisten zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden.

Nach Kriegsende konnten die GB ihre Zusammenkünfte wieder legal durchführen. Eine Reihe von Mitgliedern der BEFG-Brüdergemeinden ging daraufhin zu ihnen zurück. Ab 1949 traten dann weitere Brüdergemeinden aus dem BEFG aus, die aber nicht mehr zu den GB zurückwollten, sondern ein loses Netzwerk bildeten, das als Freier Brüderkreis bezeichnet wird; sie verstehen sich als eine Gruppierung, die bewusst wieder an die Tradition der Offenen Brüder anknüpfen will.

Die GB erlebten in den 1990er-Jahren eine tiefgreifende Krise. Einzelne Teilgruppen und ganze Gemeinden trennten sich von ihnen bzw. wurden ausgeschlossen; dabei ging es um Fragen wie die Selbstständigkeit der Ortsgemeinden und die Teilnahme am Abendmahl, besonders von Christen aus nahestehenden Gemeinschaften. Diese neuen Gemeinden werden oft als „blockfreie Brüder“ bezeichnet. Das Spektrum ist dabei groß: Teilweise pflegen sie weiterhin Bräuche der GB, teilweise sind sie in vielem offener geworden und unterscheiden sich kaum noch von den Brüdergemeinden, die im BEFG sind. Sie haben sich bis jetzt aber nicht zu einem Netzwerk zusammengeschlossen.


Glaubensinhalte

Für alle Gruppierungen stellt die ganze Bibel die Glaubensgrundlage dar. Sie ist das autoritative und inspirierte Wort Gottes. Die Bibel wird häufig dispensationalistisch ausgelegt, d.h. es wird gefragt, ob ein Bibeltext Israel oder die Gemeinde betrifft, da ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden Heilsgrößen gesehen wird. 

Bezüglich des Gottesverständnisses bestehen keine Unterschiede zu den evangelischen Freikirchen wie beispielsweise den Freien evangelischen Gemeinden.

Entscheidende Unterschiede treten aber bezüglich der Anschauungen von der Kirche und ihrer Verwirklichung auf. Die GB vertreten bis heute die Verfallstheorie Darbys: In der ersten Zeit der Kirche gab es einen idealen Zustand, in dem ihre Einheit sichtbar wurde. Nach der Zeit der Apostel trat der Verfall ein, der sich heute u.a. in der Existenz vieler Denominationen zeigt, die letztlich nicht dem Willen Gottes entsprechen.

Darby zufolge kann aber eine Heilsepoche, die einmal zerstört worden ist, nicht wiederhergestellt werden. Deshalb ist es auch nicht möglich, eine Gemeinde nach neutestamentlichem Vorbild zu bilden. Dem wahren Gläubigen bleibt nichts anderes übrig, als alle kirchlichen Systeme – zu denen ausdrücklich auch die Freikirchen gerechnet werden – zu verlassen und sich mit anderen Gleichgesinnten auf der Grundlage des einen Leibes Christi allein zum Namen Jesu hin zu versammeln. Ausdrücklich möchte man damit keine Denomination neben anderen sein. Feste Ämter gibt es nicht, sondern nur die entsprechenden Dienste, wie beispielsweise den Predigtdienst, der von jedem „Bruder“ ausgeübt werden kann, der sich dazu vom Heiligen Geist berufen fühlt. 

Die verschiedenen örtlichen Gemeinden existieren bei den GB aber nicht unabhängig voneinander, sondern in einer Art Verbundsystem. Jede Form von kirchlicher Unabhängigkeit wird daher strikt abgelehnt. Die GB arbeiten weder in der Evangelischen Allianz noch in der Ökumene mit.

Die BF- und FB-Gemeinden vermeiden ebenfalls mehr oder minder feste kirchliche Strukturen. Sie betonen aber die Selbstständigkeit der örtlichen Gemeinde. Etwas anders sieht das Bild bei den CF-Gemeinden aus. Sie, die ebenfalls kongregationalistisch ausgerichtet sind, haben offizielle Gemeindeleiter und inzwischen zunehmend Pastoralreferenten bzw. Pastoren.

Die Glaubenstaufe ist die Regel, sie wird aber außer in den CF-Gemeinden nicht mit der Gemeindemitgliedschaft verknüpft.

Wichtig für die meisten Brüdergemeinden ist die Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi zur Aufnahme aller wahrhaft Gläubigen in den Himmel (Entrückungslehre). Diese Haltung motiviert zur Mission, verhindert aber oft ein gesellschaftliches Engagement, da man – so die Überzeugung in vielen Brüdergemeinden – die Welt nicht verbessern kann. In den CF-Gemeinden wird aber ein politisches Engagement durchaus begrüßt.


Gottesdienste

In allen Richtungen stellt die sonntägliche Abendmahlsfeier den zentralen Gottesdienst dar. Man erinnert sich an den Tod Jesu und bekundet vielfach auch die Einheit des Leibes Christi, die in dem einen Brot zum Ausdruck kommt. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich eine ausgeprägte Abendmahlsspiritualität entwickelt, die besonders im Liedgut ihren Ausdruck findet. 

Die GB-Gemeinden lassen nur in Ausnahmefällen Christen aus anderen Gemeinschaften zum Abendmahl zu. Die anderen Richtungen pflegen mehr oder minder eine offene Abendmahlspraxis. 

Neben den Predigten werden auch regelmäßige Bibelbetrachtungen und Gebetszusammenkünfte durchgeführt. Außer in den CF-Gemeinden können sich nur Männer daran beteiligen.


Ethik

In vielen Brüdergemeinden werden biblische Aussagen wortwörtlich verstanden. So werden praktizierte Homosexualität und sexuelle Kontakte vor der Ehe häufig abgelehnt. Besonders von den GB wird eine mehr oder minder strikte Absonderung von der Welt propagiert, die sich auch im äußeren Erscheinungsbild zeigen sollte. Dazu gehört ebenfalls bei vielen ein distanziertes Verhältnis zur Kultur und zum gesellschaftlichen Leben.


Ökumene

Sowohl die FB- als auch die CF-Gemeinden arbeiten in der Evangelischen Allianz mit. Bezüglich der Ökumene äußerte das CF zwar Vorbehalte gegenüber der Charta Oecumenica, will aber hinsichtlich des geplanten Beitritts des BEFG zum Ökumenischen Rat der Kirchen den Weg mitgehen, soweit es mit dem „Selbstverständnis“ der Brüdergemeinden „vereinbar“ ist; den einzelnen Gemeinden möchte man Freiheit hinsichtlich der Gestaltung der ökumenischen Zusammenarbeit vor Ort gewähren. Die GB-Gemeinden lehnen eine Mitwirkung in der Ökumene ab.

Andreas Liese

gegengelesen von Michael Schneider


Literatur

Holthaus, Stephan: Konfessionskunde. Handbuch der Kirchen, Freikirchen und christlichen Gemeinden, Hammerbrücke 2008 (hier wird noch weitere Literatur genannt).

Liese, Andreas: Taufverständnisse in der Brüderbewegung (aus: Zeitschrift für Theologie und Gemeinde, 2007). 

Ouweneel, Willem J.: „Christliche Versammlung“ – wohin? (übersetzt aus: Jaarboek voor de geschiedenis van het Nederlands Protestantisme na 1800, 1996). 

Internetquellen: 

www.bruederbewegung.de/bibliothek/download/neuer.html

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