Maria
Die biblische Maria: Gemeinsame Grundlagen
Was die Konfessionen verbindet, ist Maria von Nazareth, die Mutter Jesu, die ihn zur Welt gebracht, erzogen und bis zu seinem gewaltsamen Tod in Freude und Schmerz durchs Leben begleitet hat. Als geschichtliche Person ist sie kaum zu rekonstruieren, weil jedes der Evangelien im Zuge seiner Verkündigung sein eigenes Bild von Maria zeichnet und sie im Licht des Christusereignisses deutet. Die biblische Maria wird so zu einer Gestalt des Glaubens. Die altkirchlichen Glaubensbekenntnissebekennen Maria als Jungfrau, die ganz auf Gott hin ausgerichtet und offen war für sein Wirken, sowie als Mutter Gottes bzw. im Verständnis der Orthodoxie als „Gottesgebärerin“, weil Jesus Christus nach christlicher Überzeugung von Anfang an nicht nur „wahrer Mensch“, sondern auch „wahrer Gott“ war. Diese beiden frühen Glaubensaussagen knüpfen an die christologische Perspektive der Evangelien an und führen sie weiter.
Theologiegeschichtliche Entwicklungen bis zur Gegenwart
Maria ist in der Geschichte der Kirche freilich viel mehr als eine biblische Gestalt, die im Dienst der Christologie steht. Schon in den ersten Jahrhunderten wurde ihr besondere Verehrung zuteil. Als Schmerzensmutter und Schmerzensreiche war sie vielen Menschen nahe und ein Trost. Als Glaubende wurde sie zum Vorbild und zum Urbild der Kirche. Als Gegenbild zur sündigen Eva (Gen 3) galt sie als Inbegriff gelungenen Frauseins. In Anlehnung an Joh 2,3-5 wurde sie zum Subjekt vielfacher Fürbitte und zur Fürsprecherin. Vor allem im Mittelalter, das über weite Strecken ein strenges und transzendentes Gottesbild zeichnete, hatten viele Gläubige große Scheu, ihre Bitten an den unendlich weit über der Welt stehenden und erhabenen Gottvater zu richten. Auch war in dieser Zeit die menschliche Seite Jesu Christi angesichts der Überbetonung seiner Göttlichkeit ganz in den Hintergrund getreten. Angesichts dessen erschien Maria als Ansprechpartnerin für persönliche Sorgen und Nöte und als Vermittlerin menschlicher Anliegen viel näher. Als Gnadenmittlerin, die bei Gott für die sündigen Menschen eintritt, verkörperte sie jene zärtliche, mitleidige, mütterliche Seite, die im damaligen Gottesbild weitgehend fehlte. Maria wurde dabei nicht nur als individuelle Fürsprecherin und Helferin verehrt, sondern als Beschützerin einzelner Nationen und letztlich der ganzen Welt, symbolisiert durch ihren Schutzmantel, unter den sie die Menschen barg. So wurde sie zur „hohen Frau“ und Himmelskönigin, die weit über den Menschen stand. Die Zeilen eines bekannten Marienlied des Dichters Novalis aus dem 18. Jahrhundert – „Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann dich schildern“ – geben einen Eindruck von der vielfältigen Bedeutung, die Maria in der Theologiegeschichte zugesprochen wurde, und auch von der Verehrung, die ihr zuteilwurde – und die für die Reformation zum Stein des Anstoßes wurde.
Mit dem Wandel des Gottesbildes wie des Frauenbildes bis zur Gegenwart hat sich auch die Art und Weise der Marienverehrung verändert. Geblieben ist die Bedeutung Marias als Glaubende, Trösterin und Fürsprecherin in der katholischen und orthodoxen Tradition.
Die Frau, an der sich die Konfessionen scheiden
Schwindende Profile und keine Uniformität
Wenn nachfolgend pauschal von verschiedenen Konfessionen die Rede ist, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass konfessionelle Profile massiv im Schwinden begriffen sind; auch liturgische und ästhetische Gewohnheiten und Frömmigkeitsformen sind von dieser Entwicklung betroffen. Dies ist mit Blick auf Maria in besonderer Weise der Fall. Für viele Katholiken ist die Fürbitte zu Maria kein wesentliches Merkmal ihres katholischen Glaubens; umgekehrt entdecken evangelische Christinnen Maria als „Schwester im Glauben“. Von daher sind die nachfolgenden Charakterisierungen in erster Linie als holzschnittartige Typisierungen zu verstehen, mit dem Ziel, Unterschiede sichtbar zu machen.
Weiter ist zu berücksichtigen, dass unabhängig von dieser Entwicklung innerhalb der Konfessionsgemeinschaften keine Uniformität herrscht (und noch nie geherrscht hat), sondern vielmehr ein breites Spektrum an unterschiedlichen Glaubens- und Gestaltungsformen. Dies gilt für die Pluralität innerhalb der evangelischen Kirchen, wo etwa in der lutherischen Tradition im Unterschied zur reformierten Mariengedenktage mit biblischem Bezug, wie Mariä Verkündigung, an dem der Erscheinung des Engels gedacht wird, liturgisch begangen werden. Solche Pluralität gilt aber auch für die Orthodoxie und für die eine katholische Kirche. Denn die Wirklichkeit vor Ort hat ihr eigenes Gepräge, bedingt durch historische Entwicklungen, kulturelle Einflüsse und regionale oder lokale Gegebenheiten. Hinzu kommen unterschiedliche Spiritualitäten und geistliche Traditionen, nicht nur europa- oder weltweit, sondern auch innerhalb Deutschlands. Für Jugendliche, die in der Nähe eines Marienwallfahrtsortes aufwachsen, hat Marienverehrung eine andere Bedeutung als für Jugendliche in einer Großstadt; in der Schönstatt-Bewegung spielt Maria eine andere Rolle als für eher kirchendistanzierte Katholiken.
Katholische und orthodoxe Traditionen
Die zeitgenössische orthodoxe und katholische Mariologie, also die Lehre von Maria, haben viele Parallelen und führen die zuvor skizzierten theologiegeschichtlichen Linien weiter. Allerdings kommt in den orthodoxen Kirchen Maria insgesamt größere Bedeutung zu als in der katholischen, vor allem in der Liturgie. Beiden Konfessionen ist der Gedanke gemeinsam, dass Maria Gottes heilvolle Zuwendung zum Menschen sichtbar und sein Wirken in der Welt greifbar werden lässt, ohne damit die einzigartige Heilsmittlerschaft Jesu Christi zu beeinträchtigen. Dass unter den vielfältigen Ausprägungen der Marienfrömmigkeit auch Fehlformen begegnen können, dort nämlich, wo Maria an die Stelle Jesu Christi zu treten scheint, ist unbestritten. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass ein Unterschied besteht zwischen der offiziellen theologischen Lehre über Maria auf der einen und der Verehrung und Volksfrömmigkeit auf der anderen Seite. Die altkatholische Kirche kennt keine ausgeprägte Anrufung Marias um ihre Fürbitte, wohl aber die Verehrung Marias als Gottesmutter und Glaubende. Die beiden katholischen Mariendogmen von der Erbsündenfreiheit Marias (1854), im Volksmund auch „Unbefleckte Empfängnis“ genannt, und von der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel (1950) werden von den orthodoxen Kirchen und den Altkatholiken nicht anerkannt. Ihr theologischer Gehalt ist jedoch der orthodoxen Tradition nicht fremd; gefeiert wird vor allem das Fest der Entschlafung Marias, das als Äquivalent zum Fest Mariä Aufnahme in den Himmel gesehen werden kann.
Evangelische Traditionen: Marienverehrung als Anstoß
Die Reformatoren teilten den Glauben der alten Kirche an die Gottesmutterschaft und an die Jungfräulichkeit Marias. Martin Luther hatte in seinem Arbeitszimmer ein Marienbild hängen, schätzte sie als „Dienerin“ und würdigte sie in seinem Kommentar zum Magnificat als die „voller Gnade“ und als Frau, die „im ganzen menschlichen Geschlecht eine einzigartige Person ist über alle, der niemand gleich ist.“ Zwingli und Calvin äußerten sich in Bezug auf Maria zurückhaltender. Inakzeptabel war für alle Reformatoren der Marienkult zur damaligen Zeit. Vor allem die Vorstellung von Maria als Gnadenmittlerin und ihre Anrufung als Fürsprecherin erschienen nicht vereinbar mit den reformatorischen Prinzipien „Gott allein“ und „Christus allein“; eine Teilhabe Marias am Erlösungswerk Jesu Christi lehnten sie ab. Nach Luthers Tod vertieften sich die konfessionellen Gräben zunehmend. Im Zuge allgemeiner reformatorischer Bilderskepsis und des reformierten Bildersturms wurden Heiligen- und Marienbilder zerstört; Marienverehrung wurde zum Merkmal der Katholiken und Orthodoxen. Maria fiel aus dem evangelischen Bewusstsein und der Theologie heraus und wurde zu der Frau, an der sich die Konfessionen scheiden. Die beiden jüngsten katholischen Mariendogmen (Unbefleckte Empfängnis 1854 und leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel (1950)) haben diese Entwicklung weiter untermauert. Die evangelische Theologie sieht dafür keine Grundlage in der Heiligen Schrift, macht geltend, dass das Urteil über das Schicksal nach dem Tod nicht der Kirche, sondern allein Gott zusteht und anerkennt vor allem nicht ihr Zustandekommen durch das päpstliche Lehramt.
Ökumenische Annäherungen
Verglichen mit der Zeit der Reformation hat sich der Streit um Maria entspannt, so dass der Evangelische Erwachsenenkatechismus formulieren kann: „Maria gehört in das Evangelium. Maria ist nicht nur „katholisch“, sie ist auch „evangelisch“. Unter den wenigen ökumenischen Lehrdokumenten, die sich mit diesem Thema befasst haben, ist vor allem der von einer katholisch-evangelischen Arbeitsgruppe erarbeitete Text „Communio Sanctorum“ von 2000 relevant, der in Kapitel VII von Maria handelt, Missverständnisse klärt und die gemeinsamen Grundlagen aufzeigt. Während die Deutsche Bischofskonferenz das Dokument positiv bewertet, bemängelt die offizielle Stellungnahme der EKD. dass die katholische Position dargelegt werde mit dem Ziel, evangelische Zugänge zu Maria zu schaffen, aber kaum das Bemühen sichtbar werde, evangelischer Lehre und Praxis beim katholischen Gegenüber Zugänge zu verschaffen.
Wie für die Heiligen gilt auch für Maria, dass im Sinne des Prinzips der versöhnten Verschiedenheit eher auf der Ebene der Praxis als auf der der Lehre eine Annäherung möglich ist. Da Marienverehrung auf katholischer Seite keine individuelle Verpflichtung darstellt, gibt es für evangelische Christen keinen Grund, sie zu übernehmen oder sich gar dazu zu verpflichten. Umgekehrt müssten katholische Christen nicht auf sie verzichten, wenn geklärt ist, dass sie die Mittlerschaft Jesu Christi dadurch nicht in Frage stellen.
Sabine Pemsel-Maier
Literatur
Hauke, Manfred: Maria, "Mutter der Einheit", Regensburg 2020.
Pemsel-Maier, Sabine: Konfessionen gewinnen Gestalt: Kirchenraum – Liturgie – Heilige – Maria, in: Dies./Kappes, Michael/Schuegraf, Oliver/Link-Wieczorek, Ulrike: Basiswissen Ökumene. Band 2: Arbeitsbuch mit Materialien, Leipzig-Paderborn 2019, 331-384.
Seidel, Thomas A. /Schacht, Ulrich (Hg.): Maria. Evangelisch, 2011, Leipzig 2011.