Jesus Freaks
Situation in der Gegenwart
Jesus Freaks ist der Name für eine missionarische und freikirchliche Bewegung, die zu Beginn der 1990er Jahren in Hamburg entstand und sich insbesondere in städtischen Milieus unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausbreitete. In den Ausdrucksformen der Frömmigkeit knüpft sie an die Jesus-People-Bewegung der 1960/70er Jahre an. Jesus Freaks leben eine nicht konventionelle Form christlicher Frömmigkeit. Die Arbeit der Freaks ist in Sprache, Musik, Umgangsformen, Kleidung usw. mitbestimmt durch Elemente einer alternativen Jugendkultur. Als Bewegung haben sie sich eigenständig außerhalb bestehender landeskirchlicher und freikirchlicher Strukturen entwickelt. Jesus Freaks verstehen sich als erwecklich geprägte Gemeinschaft, die radikale Jesusnachfolge leben und Brücken zu kirchlich unerreichten Jugendszenen bauen will.
Geschichte
Aus der Drogenszene kommend, erlebte Martin Dreyer (geb. 1965) als Jugendlicher in einem Gottesdienst der evangelikal und charismatisch geprägten und neu gegründeten Gemeinde Wolfram Kopfermanns – Anskar-Kirche – eine Bekehrungserfahrung, durch die sich sein Leben veränderte. Seit 1991 kam es in Hamburg zu Treffen junger Leute, die ein unkonventionelles Christsein leben wollten und Mitglieder traditioneller Gemeinden als Störung betrachteten. Jesusbegeisterte junge Leute begannen mit eigenen Versammlungen, die von Freaks für Freaks gestaltet wurden, sich schnell herumsprachen und sich zu einem Anziehungspunkt für junge Menschen aus unterschiedlichen Milieus entwickelten. Die „Jesus-Abhängabende“ wurden zum Kristallisationspunkt der Arbeit. Die Gruppe wurde bald über Hamburg hinaus bekannt, fand große Aufmerksamkeit in den säkularen Medien und entwickelte sich gemeindemäßig. 1994 wurde Dreyer durch Kopfermann nach einer Ausbildungsphase im Anskar-Kolleg zum „ersten Pastor in der Freak-Arbeit“ beauftragt. Seit 1995 entdeckten die „Jesus Freaks Hamburg“, dass sich zahlreiche weitere Gruppen gebildet hatten, teilweise auch über Deutschland hinaus: u. a. Österreich, Schweiz, Dänemark, Niederlande, Tschechien. Nach einer längeren persönlichen Krisenzeit veröffentlichte Martin Dreyer 2005 eine Übertragung des Neuen Testamentes in provozierender Jugendsprache und wurde zum Initiator des Volxbibel-Projektes, an dem bis heute weitergearbeitet wird. Die Volxbibel landete auf zahlreichen Bestsellerlisten und bekam bemerkenswerte Würdigungen, u. a. von der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Glaubens- und Gemeindeleben
In der ersten Phase der Geschichte der Freaks stehen Mission und eine schrille und laute Außenorientierung im Zentrum. Nach zahlreichen internen Konflikten der Bewegung – u. a. in Leitungsfragen, durch Abwanderung von Gemeinden und Leitungspersonen zur umstrittenen Bewegung „Wort und Geist“ von Helmut Bauer – folgte eine Phase der Innenorientierung und Selbstreflexion, die ihren Ausdruck in dem Jesus-Freak-Konzil (2007-2008) fand, auf dem die Charta der Freaks verabschiedet wurde. Heute ist die Bewegung der Jesus Freaks zu einer Mehrgenerationenbewegung geworden, zu der auch Familien-, Kinder- und Seniorenarbeit gehören. Die Charta gibt Auskunft über Visionen und Werte der Bewegung, über ihre veränderte Organisationsstruktur mit mehr Dezentralisierung und Partizipation, über die wachsende ökumenische Offenheit mit der Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen christlichen Gemeinschaften und Kirchen, über ihre Orientierung an der trinitarischen Struktur des christlichen Glaubens. In den Lobpreisliedern der Jesus Freaks ist es der gekreuzigte und auferstandene Jesus, der im Zentrum der Anbetung steht. In zahlreichen Predigten wird der irdische Jesus in den Mittelpunkt gestellt, der sich den Benachteiligten und Hilfebedürftigen zuwendet und die Verlorenen sucht und findet. Die Taufe wird als Glaubens- bzw. Erwachsenentaufe mit Untertauchen praktiziert, oft in der Öffentlichkeit, an Flüssen und Seen. In Stilfragen, nicht aber in inhaltlichen Orientierungen, unterscheiden sich die Freaks von anderen christlichen Kirchen und Gemeinden. Ihre Musikkultur greift unterschiedliche Richtungen heutiger Musik auf, u. a. Pop, Reggae, Punk, vor allem Hard Rock.
Im deutschsprachigen Bereich (Deutschland, Österreich Schweiz) sind die Jesus-Freaks mit ca. 45 kleineren und größeren Gruppen und Gemeinden mit ca. 2500 Mitgliedern verbreitet. Geographische Schwerpunkte sind u. a. Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Baden-Württemberg, Bayern. Eigenständige und unterschiedliche Jesus-Freak-Gemeinden und Gruppen sind netzwerkartig miteinander verbunden. Jährlich gibt es ein Gesamttreffen, „Freakstock“ genannt, das an unterschiedlichen Orten als Festival stattfindet, in dem Musik und der Austausch zu Glaubensthemen im Zentrum stehen. Die christlichen Kirchen erkennen das christliche Zeugnis an, das von der Bewegung der Jesus Freaks ausgeht. Die Traditionskritik der Anfangszeit wurde abgemildert. In den sozialdiakonischen Aktionen nahm die Professionalisierung zu. Die Vision der Jesus Freaks „von der Wiege bis zur Bahre“ steht dabei in Spannung zur Orientierung an alternativen Jugendkulturen. Die Suche nach einer authentischen Inkulturation des Evangeliums in heutige Jugendszenen stellt eine zentrale Aufgabe aller christlicher Kirchen dar. Der Stil der Jesus Freaks ist dabei ein Weg der Gestaltung christlichen Lebens unter anderen. Bei einem Teil der Jugendlichen und Erwachsenen stößt er auf Resonanz.
Reinhard Hempelmann
Literatur
- Dreyer, Martin: Jesus-Freak. Leben zwischen Kiez, Koks und Kirche. München 2012.
- Dreyer, Martin: Panik-Pastor. Wie Gott mir meine Angst nahm, Witten 2021.
- Hempelmann, Reinhard: „Jesus sitzt im Chefsessel“, in: Matthias Pöhlmann (Hg.), Sehnsucht nach Verzauberung. Religiöse Aspekte in Jugendkulturen, Berlin 2003, 29-41.
- Meyer, Karina: 20 Jahre Jesus Freaks. Die Entwicklung einer Jugendbewegung, in: Materialdienst der EZW 12/2011, 460-466.