Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche

Situation in der Gegenwart

Die Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche ist mit schätzungsweise mehr als 50 Millionen Gläubigen das mit Abstand zahlenstärkste Mitglied der Orientalisch-Orthodoxen Kirchenfamilie. Nach eigenen Angaben verfügt sie über ca. 40.000 Gemeinden und ca. 1.500 Klöster. Zugleich ist die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche die älteste heute noch existierende christliche Kirche im Subsahara-Afrika.

Die äthiopisch-orthodoxen Christinnen und Christen leben längst nicht nur in Äthiopien, sondern sind mittlerweile in allen Erdteilen zu Hause. Anders als im Falle der meisten anderen orientalisch-orthodoxen Kirchen erfolgte die weltweite Ausbreitung des äthiopisch-orthodoxen Christentums im 20. Jahrhundert nicht nur im Zuge der Migration, sondern auch in Folge gezielter Missionstätigkeit (vor allem in der Karibik und einigen Ländern Afrikas). Seit 1983 besteht die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche auch in Deutschland. Über mehrere Jahrzehnte wurde die Kirchenprovinz Deutschland und Westeuropa von Erzpriester Dr. Merawi Tebege als Patriarchatsvikar geleitet. Aufgrund ihrer Bedeutung wurde die Kirchenprovinz 2018 zur Diözese aufgewertet. Erster Bischof wurde Abune Diyonasiyos. Der Bischofsitz der neu errichteten Diözese, zu der auch die Schweiz, Österreich und die Niederlande gehören, befindet sich in Berlin.

Bis März 2022 hatte die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche gleichzeitig zwei Patriarchen, Abune Merkorios und Abune Mathias (gewählt 2013). Diese ungewöhnliche Konstellation ergab sich 2018 als Kompromisslösung, die es möglich machte, das knapp drei Jahrzehnte währende Schisma innerhalb der äthiopischen Kirche zu beenden. Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche hatte sich 1991 als Folge des politischen Wandels, der den ehemaligen Patriarchen (1988-1991) Abune Merkorios zum Exil in den USA zwang, entzweit. Seither gab es zwei Synoden (eine Exil-Synode und eine Synode in Äthiopien), mit jeweils einem Patriarchen. Nach Versöhnungsgesprächen im Jahr 2018 wurde die Trennung der beiden rivalisierenden überwunden und Abune Merkorios wieder eingesetzt. Die administrative Leitung des Patriarchats obliegt Abune Mathias. Abune Merkorios starb am 3. März 2022.


Geschichte

Laut der äthiopischen Tradition breitete sich das Christentum bereits in der apostolischen Zeit am Horn von Afrika aus, und zwar dank dem „äthiopischen Kämmerer“ der Königin Kandake, der durch den Apostel Philippus getauft wurde (Apg 8,26–40). Historisch greifbare Vorgänge von Christianisierung der Region lassen sich bis ins 4. Jahrhundert zurückverfolgen. Sie sind mit der Person von Frumentius verbunden, der in der äthiopischen Tradition als „Vater des Friedens“ und „Offenbarer des Lichtes“ verehrt wird. Dieser aus Tyrus stammende Christ wurde im frühen 4. Jahrhundert nach einem Schiffsüberfall an der Küste des Roten Meeres zusammen mit seinem Bruder Aidesios an den Hof des Kaisers von Aksum verkauft. Dort wurde Frumentius zum Hauslehrer des Thronfolgers Ezana und vermittelte ihm den christlichen Glauben. Die Bekehrung des Kaiserhauses hatte die Etablierung des Christentums im Aksumitischen Reich gegen Mitte des 4. Jahrhunderts zur Folge. In den zwei darauffolgenden Jahrhunderten fand die Christianisierung ihre Vertiefung durch das Wirken einer Gruppe von – wahrscheinlich aus dem Gebiet des Byzantinischen Reiches stammenden – Mönchen, die als die „Neun Heiligen“ bekannt geworden sind.

Die enge Verbindung mit dem äthiopischen Kaisertum wurde seitdem zu einem entscheidenden Merkmal, das die Geschichte der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche über die Jahrhunderte hinweg prägte. Bis hin zum Sturz des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie im Jahr 1974 genoss sie eine privilegierte Stellung als Staatskirche und war in vielerlei Hinsicht identitätsstiftend für den äthiopischen Staat.

Auf die Ereignisse des 4. Jahrhunderts geht auch eine weitere Verbindung zurück, die eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche spielte. Nach der Etablierung des christlichen Glaubens am Horn von Afrika, wurde Frumentius durch Athanasius von Alexandrien zum Bischof von Aksum geweiht. Die dadurch entstandene jurisdiktionelle Abhängigkeit vom Patriarchat in Alexandrien führte dazu, dass in der Folgezeit die Kirche Äthiopiens als eine Metropolie der Koptisch-Orthodoxen Kirche galt, zu der der koptische Papst einen ägyptischen Mönch als Metropoliten auf Lebenszeit entsandte. Den autokephalen Status erlangte die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche erst im Jahr 1959.


Glaubensinhalte

In dogmatischer Hinsicht stimmt die äthiopische Kirche im Allgemeinen mit der Koptisch-Orthodoxen Kirche überein. Der in ihrer Selbstbezeichnung enthaltene Begriff „Tewahedo“ stammt aus der altäthiopischen Liturgiesprache Gəʿəz und bedeutet „vereint als eins“. Er bezieht sich auf die Art und Weise der Vereinigung der beiden Naturen in Christus und bringt somit die miaphysitische Christologie der Kirche Äthiopiens zum Ausdruck.

Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche hat einen deutlich umfassenderen Bibelkanon als andere christliche Kirchen. So zählt zum Alten Testament in der äthiopischen Bibel unter anderem etwa das Buch der Jubiläen und das Henochbuch. Im Neuen Testament werden zu den in anderen Kirchen anerkannten 27 Büchern noch acht hinzugefügt, nämlich die zwei Bücher Kidan, vier Bücher Sinodos, die Didascalia und der Qalementos.

In der Selbstwahrnehmung der äthiopisch-orthodoxen Christen nimmt die Ansicht, dass Äthiopien sich bereits in den alttestamentlichen Zeiten zum monotheistischen Glauben an den biblischen Gott gewandt habe, eine zentrale Bedeutung ein. Diese Vorstellung fand ihren primären Ausdruck im spätmittelalterlichen Werk Kebra Nagast („Die Herrlichkeit der Könige“), das einen literarisch-theologischen Ausbau der biblischen Erzählung über die Begegnung von König Salomo und der Königin von Saba (I Reg 10,1–3 und II Chr 9,1–12) enthält. Als konstitutiv für die Herausbildung der distinktiven äthiopisch-orthodoxen Identität erwiesen sich zwei in diesem Zusammenhang stehende Ideen. Zum einen die Vorstellung, dass die äthiopische königliche Dynastie von der Königin von Saba (diese wird dabei als eine äthiopische Herrscherin vorgestellt) und König Salomo abstamme. Zum anderen die Überzeugung, dass ihr Sohn Menelik die Bundeslade mit den Gesetzestafeln aus Jerusalem nach Äthiopien überführt habe. Dadurch wird die Eingliederung der Äthiopier in die Heilsgeschichte als das „neue Israel“ begründet. Es wird geglaubt, dass sich die Bundeslade heutzutage in einer Kapelle in der nordäthiopischen Stadt Aksum befindet, wo sie für niemanden zugänglich gehütet wird.


Glaubens- und Gemeindeleben

Ähnlich wie in anderen orthodoxen Kirchen vollzieht sich das kirchliche Leben vor allem in der Feier der Liturgie. Dabei verfügt die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche über eine reiche ikonographische und hymnologische Tradition. Die Entwicklung einer eigenständigen äthiopischen Kirchenmusik und Notation wird dem Heiligen Yared (6. Jh.) zugeschrieben. Eine zentrale Stellung im liturgischen Geschehen kommt dem Tabot, einer eigens konsekrierten Altartafel, zu. Der Tabot repräsentiert die Bundeslade und stellt eine notwendige Voraussetzung für die Eucharistiefeier dar. Bei den großen Festen wird er in feierlichen Prozessionen, stets verhüllt von einem Priester auf dem Kopf getragen, auch außerhalb der Kirche eingesetzt.

Die Spiritualität der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche ist stark von dem monastischen Ethos geprägt. Die Klöster sind bis heute die wichtigsten Stätten der Erhaltung und Verbreitung der äthiopisch-orthodoxen Tradition. Weiterhin sind sie Zentren des traditionellen Kirchenschulwesen Äthiopiens, eines der ältesten nie unterbrochenen Bildungssysteme der Welt. Während das traditionelle kirchliche Schulwesen aufgrund der Verbreitung des westlichen Bildungssystems im 20. Jahrhundert unter Druck geriet, ist es der Kirche in den letzten Jahrzehnten gelungen, eine weit vernetzte Sonntagsschulbewegung und dynamische Jugendarbeit zu etablieren.

Zu den Charakteristika der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche gehören Frömmigkeitspraktiken beziehungsweise religiös konnotierte Bräuche wie die Beschneidung, das Einhalten des Sabbat-Gebotes und der Verzicht auf Schweinefleisch.

Äthiopischer Priester mit Tabot (author: Jialiang Gao)

Ökumene

Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche zählt zu den Gründungsmitgliedern des Ökumenischen Rates der Kirchen (1948) sowie der Gesamtafrikanischen Kirchenkonferenz (1963) und bringt sich aktiv in die Arbeit dieser internationalen Organisationen ein. In Deutschland gehört sie seit 1998 zur Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Des Weiteren nimmt die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche an multilateralen theologischen Gesprächen teil, die die Orientalisch-Orthodoxen Kirchen gemeinsam mit der Orthodoxen Kirche, der Römisch-katholischen Kirche, der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen sowie der Anglikanischen Kirchengemeinschaft führen.
Die herausragende Bedeutung der ökumenischen Bewegung aus Sicht der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche brachte 2017 das Kirchenoberhaupt Abune Mathias bei seinem Besuch des Ökumenischen Zentrums in Genf zum Ausdruck.

Stanislau Paulau

gegengelesen von Merawi Tebege


Literatur

  • Brakmann, Heinzgerd: To para tois barbarois ergon theion. Die Einwurzelung der Kirche im spätantiken Reich von Aksum, Bonn 1994.
  • Chaillot, Christine: The Ethiopian Orthodox Tewahedo Church Tradition. A Brief Introduction to Its Life and Spirituality, Paris 2002.
  • Hage, Wolfgang: „Die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche“, in: Ders., Das orientalische Christentum (= Die Religionen der Menschheit Bd. 29,2), Stuttgart 2007, 200–221.
  • Heyer, Friedrich: Die Kirche Äthiopiens. Eine Bestandsaufnahme (= Theologische Bibliothek Töpelmann Bd. 22), Berlin u.a. 1971.
  • Paulau, Stanislau: Das andere Christentum. Zur transkonfessionellen Verflechtungsgeschichte von äthiopischer Orthodoxie und europäischem Protestantismus (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz Bd. 262), Göttingen 2021. Open Access.
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