Reich Gottes / Eschatologie

Begriff und Bedeutung

Etymologisch aus dem Griechischen abgeleitet (ἔσχατον und λόγος) wird die Eschatologie als die Lehre „von den letzten Dingen“ wahrgenommen. Obwohl Eschatologie erst im 17. Jahrhundert als Begriff auftaucht und sich ab dem 19. Jahrhundert als dogmatischer terminus technicus etabliert, bezieht sie sich unmittelbar auf das Zentrum der christlichen Lehre: die Reich-Gottes-Botschaft Jesu, die Verkündigung der neuen Wirklichkeit, die mit dem Heilswerk Christi beginnt und posthistorisch vollendet wird. Methodisch kann man zwischen individueller (Tod, individuelles Gericht, Himmel und Hölle) und universeller (Wiederkunft Christi, Ende der Welt, Weltgericht, ewiges Leben) Eschatologie unterscheiden, obwohl diese Differenzierung nicht die Fülle des Eschatologiebegriffs in der heutigen Theologie wiedergibt. Denn in ihrer ontologischen Dynamik durchdringt die Eschatologie alle Inhalte des christlichen Glaubens.

Die eschatologischen Grundaussagen des Christentums werden schon in Glaubensbekenntnissen der ersten Jahrhunderte zusammengefasst. Christus „sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein. […] Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt“, so das für den heutigen multilateralen ökumenischen Dialog entscheidende Nicäno-Konstantinopolitanum (381).


Eschatologie und Hermeneutik

Hermeneutische Grundsatzentscheidungen über den Charakter der Bildersprache der eschatologischen Aussagen der Bibel sind für die inhaltliche Richtung der Eschatologie entscheidend. Der apophatische Moment der Eschatologie wird oft betont (theologia negativa): In der Lehre von den letzten Dingen stößt die Sprache auf ihre Grenzen; die Bilder weisen auf eine neue, von Gott versprochene Realität hin, ohne sie adäquat beschreiben zu können. Dies stellt nicht die Wahrhaftigkeit der biblischen Versprechen in Frage, erinnert aber an ihren Ursprung, die das menschliche Denk- und Sprachvermögen überbietende Wirklichkeit Gottes. 

Die Konkretisierungen dieser Grundhaltung variieren jedoch in der Vielfalt der christlichen Theologien, von der konsequenten Begünstigung worttreuer Interpretationen bis zu Auslegungen, die stark relativierend bleiben und eine posthistorische Perspektive für den Menschen und die Schöpfung hinterfragen. Chiliastische Vorstellungen einerseits und Versuche einer Dekonstruktion der christlichen Eschatologie in die Richtung einer Ethisierung oder Existentialisierung der eschatologischen Botschaft Jesu und einer Wahrnehmung des Reiches Gottes als eine immanente sittliche Größe andererseits gibt es immer wieder, sind aber für kirchlich verantwortete Theologien nicht repräsentativ.


Eschatologie und Zeit

Die Eschatologie verdeutlicht die Zentralität der Kategorie der Zeit für die christliche Weltanschauung, indem sie auf die Spannung zwischen dem Schon Jetzt des Heilswirkens Gottes und des Noch Nicht seiner Vollendung hinweist. Etliche eschatologische Entwürfe heben den präsentischen Moment in der Reich-Gottes-Lehre hervor (das Reich ist schon da), während andere die Eschatologie überhaupt als rein futurisch wahrnehmen (das Reich kommt am Ende der Geschichte).

Theologisch plausibler scheinen allerdings Synthesen dieser Positionen, die für den dynamischen Charakter der Lehre von den letzten Dingen sprechen: Das Reich Gottes ist eine Realität, die schon mit dem Heilswerk Jesu Christi begonnen hat und am Ende der Zeiten vollendet wird. Die Endzeit ist schon mitten in der Geschichte in Jesus Christus eingebrochen. Etliche christliche Traditionen heben sogar die Sakramente und primär der Eucharistie als Vorwegnahme bzw. Vorgeschmack einer Realität hervor, die im Eschaton in ihrer Fülle erlebt wird.

Die eschatologische Vollendung der Gottesgemeinschaft ergibt sich nicht aus einer immanenten Teleologie; sie wird als Geschenk Gottes eingesehen. Ein Grundvertrauen auf die souveräne Initiative Gottes, der selbst das Wann und Wie des Eschaton bestimmen wird, ersetzte allmählich die urchristlichen Erwartungen einer baldigen Wiederkunft Christi.


Eschatologie, Hoffnung und Verantwortung

Das Christentum verkündet keine innergeschichtliche Aufhebung des Bösen und des Leids; seine Hoffnung verortet es im Eschaton, wo die überwältigende Offenbarung der Fülle der Gottesgemeinschaft erfolgen wird. Diese Hoffnung bezieht die ganze Schöpfung ein; man erwartet einen neuen Himmel und eine neue Erde (Jes 65,17; Offb 21,1). Somit grenzt sich der christliche Glaube von unterschiedlichen säkularisierten Eschatologien ab, vom Fortschrittsglauben der Aufklärung, der hegelianischen und marxistischen Teleologie bis zu den verschiedenen Formen des Utopismus. Die Geschichte wird von den Zerwürfnissen der menschlichen Realitäten bestimmt und von Brüchen geprägt, die die Plausibilität linearer Geschichtsphilosophien in Frage stellen und überzeugen, dass es keine endgültige immanente Lösung des kosmischen Dramas geben kann. 

Gott behält für sich das letzte Wort; er offenbart sich als das Alpha und Omega (Offb 1,8), als der einzige Herr der Geschichte. Der Glaube an einen Gott, der die Lebenden und Toten richtet, wurde mehrmals in einer stark juristischen Sprache geäußert. Die Vorstellung einer ewigen Verdammung in der Hölle bleibt genauso umstritten in den christlichen Theologien wie die Lehre von der Allversöhnung (ἀποκατάστασις πάντων). Entscheidend sind jedenfalls die Begriffe der Hoffnung und der Verantwortung. Das Christentum verkündet und hofft auf einen Gott, der seine Geschöpfe in Liebe und mit der Absicht der Gemeinschaft mit ihnen geschaffen hat: Er zeigt Verständnis für ihre Schwächen, aber auch Respekt vor ihrer verantworteten Freiheit. Die Vorstellung vom Gericht ist unmittelbar mit dem Glauben an einem gerechten und heilenden Gott verbunden.

Überzeugt vom innergeschichtlichen Einbruch der Ära des Reiches Gottes werden die Gläubigen eingeladen, als Mitarbeiter der Wahrheit zu agieren, Zeugnis von den Früchten dieser neuen Wirklichkeit abzulegen und dadurch ihren Verkündigungsauftrag glaubwürdig zu erfüllen. Das Reich Gottes ist eine pneumatische Wirklichkeit, es ist „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17). Die Stichworte Martyria (=Zeugnis), Liturgia (=Liturgie), Diakonia (=Dienst), Koinonia (=Gemeinschaft) bestimmen die Grundkonstanten eines von der Erwartung der kommenden Welt geprägten christlichen Ethos. Das eschatologische Reich ist letztendlich das Kriterium, an dem die Realitäten dieser Welt gemessen werden; dies rechtfertigt das kritisch-prophetische Wort der Kirchen gegen die sündhaften Strukturen und Phänomene des Hier und Jetzt. 


Ökumenische Relevanz

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich in den Kirchen eschatologische Lehren herausgebildet, die besonders in der Vergangenheit als kirchentrennend angesehen wurden (z.B. Fegefeuer). Heute tauchen Themen der klassischen Eschatologie eher sporadisch in der ökumenischen Diskussion auf, obwohl andererseits mehrere eschatologische Impulse ihren Platz in ekklesiologischen, soteriologischen und sozialethischen Diskussionen finden. Pessimistische Stimmen vertreten die Meinung, dass die christliche Einheit nur eschatologisch erreicht werden kann, weil bestimmte theologische Unterschiede innergeschichtlich schlicht unüberwindbar sind. Der Glaube an die eschatologische Vollendung steht nicht im Widerspruch zur Vision einer Intensivierung der gegenseitigen Annäherung und zur innergeschichtlichen Vertiefung der Einheit der Christen. Die Arbeit an einer ökumenischen Bibelhermeneutik könnte viele Konvergenzen der Kirchen in der Eschatologie verdeutlichen und zur Überwindung von geschichtsbelasteten Divergenzen beitragen. Die eschatologische Perspektive ermutigt die Kirchen zu intensiven Reflexionen über die ekklesiologischen Implikationen ihres In-via-Status und stärkt sie in der praktischen Zusammenarbeit, um gemeinsam Zeugnis vom eingebrochenen Reich Gottes in der Welt abzulegen. 

Georgios Vlantis


Literatur

Böttigheimer, Christoph / Dziewas, Ralf / Hailer, Martin: Was dürfen wir hoffen? Eschatologie in ökumenischer Verantwortung (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 94), Leipzig 2014.

Körtner, Ulrich H. J.: Die letzten Dinge (Theologische Bibliothek 1), Neukirchen-Vluyn 2014.

Rahner, Johanna: Einführung in die christliche Eschatologie, Freiburg i.Br. u.a. ²2016.

Swarat, Uwe / Söding, Thomas (Hg.): Gemeinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie im ökumenischen Gespräch (Quaestiones disputatae 257), Freiburg i. Br. u.a. 2013.

Walls, Jerry L. (Hg.): The Oxford Handbook of Eschatology, Oxford u.a. 2008.

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