Fundamentalismus

Begriff und Bedeutung

Der Begriff Fundamentalismus geht auf die Schriftenreihe „The Fundamentals. A Testimony to the Truth“ zurück, die zwischen 1910 und 1915 in den Vereinigten Staaten in hoher Auflage publiziert wurde. Führende konservative Protestanten, Theologen und Laien, gaben in den 12 Bänden der Reihe kritische Stellungnahmen zu liberalen Strömungen in Theologie und Kirche ab. In Anknüpfung daran bezeichnet ein herkömmlicher Sprachgebrauch denjenigen Bereich protestantischer Frömmigkeit als fundamentalistisch, der neben traditionellen Lehren wie Gottheit Jesu Christi, Jungfrauengeburt und Wunder, Sühnetod, leibliche Auferstehung und Wiederkunft besonderes Gewicht auf die absolute Irrtumslosigkeit (inerrancy) und Unfehlbarkeit (infallibility) der „ganzen Heiligen Schrift in jeder Hinsicht” legt (vgl. auch die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel, 1978).
Der gegenwärtige Gebrauch des Wortes Fundamentalismus ist weiter. Er bezieht sich auf unterschiedliche Strömungen innerhalb des Christentums, aber auch auf Bewegungen in anderen Religionen; er reicht über den Bereich des Religiösen hinaus. In seiner heutigen Verwendung ist Fundamentalismus ein Bewertungsbegriff, keine Selbstbezeichnung. Der Begriff ist durch seine Unbestimmtheit und seinen inflationären Gebrauch in der Medienöffentlichkeit umstritten. Nicht selten wird jede Form religiöser Hingabe unter Fundamentalismusverdacht gestellt, oder evangelikale und pfingstlich-charismatische Bewegungen werden pauschal mit dem christlichen Fundamentalismus identifiziert. Dies ist weder historisch noch phänomenologisch zutreffend, auch wenn es Zusammenhänge und Übergänge gibt, deren Problematik in der Regierungszeit des US-Präsidenten Donald Trump offensichtlich wurde.


Phänomene

Dem protestantischen Fundamentalismus geht es vor allem um eine offensive Antithese gegenüber dem Einfluss des theologischen und kirchlichen Liberalismus. Angesichts historischer Bibelkritik werden Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel pointiert hervorgehoben. Angesichts säkularer Fortschrittserwartungen wird auf den endzeitlichen Charakter des christlichen Glaubens verwiesen und eine pessimistische Weltwahrnehmung gepflegt, die sich mit einem gesteigerten Endzeitbewusstsein (prämillenaristischer Dispensationalismus) verbindet. Angesichts der im öffentlichen Schulunterricht vermittelten Evolutionslehre wird ein wortwörtliches Verständnis des Schöpfungsglaubens mithilfe kreationistischer Ideen und dem Versuch des Aufbaus einer alternativen christlichen Wissenschaft bekräftigt. In fundamentalistischen Strömungen zeigen sich die Schattenseiten protestantischer Erweckungsfrömmigkeit: Religiöse Hingabebereitschaft kann missbraucht werden; die Orientierung an charismatischen Führungspersönlichkeiten kann das Erwachsenwerden im Glauben verhindern; die Berufung auf die Bibel und auf den Heiligen Geist kann funktionalisiert werden für ein problematisches Macht- und Dominanzstreben; das gesteigerte Sendungsbewusstsein einer Gruppe kann umschlagen in ein elitäres Selbstverständnis, das sich scharf nach außen abgrenzt und im Wesentlichen von Feindbildern lebt. 
Verschiedene Ausprägungen eines christlichen Fundamentalismus lassen sich unterscheiden: ein auch politisch relevanter Fundamentalismus der Welteroberung und ein eher unpolitisch ausgerichteter Fundamentalismus der Weltentsagung.  Spannungsvoll nebeneinander stehen auch der Wortfundamentalismus und der Geistfundamentalismus. Beiden gemeinsam ist, dass sie auf die menschliche Sehnsucht nach Vergewisserung und Sicherheit antworten. Der Literalismus sucht rückwärtsgewandt die Glaubensvergewisserung durch den Rekurs auf das unfehlbare Gotteswort in der Vergangenheit. Der Enthusiasmus orientiert die Vergewisserung an sichtbaren Geistmanifestationen in der Gegenwart (Visionen, Heilungen, ekstatische Erfahrungen, etc.), die als unzweideutige Zeichen, ja Beweise der göttlichen Gegenwart angesehen werden. In beiden Ausprägungen wird eine wortwörtliche Bibelauslegung vertreten. Beide Richtungen deuten die Heilige Schrift jedoch jeweils anders. Sie zeigen damit, dass diejenigen Recht haben, die sagen, dass der Kern des christlichen Fundamentalismus nicht allein in dem durch das Verbalinspirationsdogma bestimmten Verständnis der Heiligen Schrift liegt, sondern in einer besonderen Art der Frömmigkeit, die vom Fundamentalisten als die einzig Richtige angesehen wird.
Im römisch-katholischen und orthodoxen Christentum zeigen sich fundamentalistische Bewegungen als rückwärtsgewandter Traditionalismus und Antimodernismus. Die psychologische Wurzel des Fundamentalismus ist „die Angst, die durch ein umfassendes Streben nach Sicherheit behoben werden soll“ (Wolfgang Beinert). Sie soll bewältigt werden durch das Angebot von unhinterfragbarer Tradition. An die Stelle der Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift tritt die absolute Verbindlichkeit lehramtlicher Normen und hierarchischer Autoritätsstrukturen. Als Grundzüge eines katholischen Fundamentalismus werden etwa genannt: unnachgiebige Verteidigung von bestimmten Glaubenssystemen und Satzwahrheiten, Selbstisolierung durch ein übertriebenes Erwählungsbewusstsein, Autoritarismus, Dualismus des Weltbildes, Anspruch des Wahrheitsbesitzes, Diskursunfähigkeit (vgl. Beinert).


Hintergründe

Im Kontext pluralistischer Gesellschaften verstärken die Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit des Lebens die Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit, nach Reduktion von Komplexität. Fundamentalistische Strömungen haben in diesem Umfeld ihre Chancen. Unter dem Einfluss von Urbanisierung und Pluralisierung entstehen sie als Reaktion auf die ambivalenten Folgen von Modernisierungsprozessen. Der Fundamentalismus schafft Eindeutigkeit und vermittelt nicht hinterfragbare feste Positionen: in den Grundfragen des Lebens, aber auch in Fragen der Lebensführung und der Politik. Als „patriarchalische Protestbewegung“ (Martin Riesebroth) beruft er sich auf das göttliche Gesetz und begibt sich auf die Bühnen politischer Auseinandersetzung, vor allem auf dem Feld ethischer Fragen (u. a. Ehe und Familie, Homosexualität, Lebensschutz am Anfang und Ende des Lebens, Gender). Er betont die unbedingte Geltung der Heiligen Schrift und verbindet dies mit der für fundamentalistische Bewegungen charakteristischen Überzeugung, „auf der Grundlage der heiligen Texte eine neue Gesellschaft aufzubauen“ (Gilles Kepel). Die pluralistische Moderne und der Fundamentalismus sind als globale Gegenkonzepte zu verstehen. Der Fundamentalismus antwortet auf den Abbruch der Tradition und der damit verbundenen religiösen und kulturellen Identitätsgefährdung. Fundamentalistische Strömungen verkennen zugleich ihre Abhängigkeit von der Moderne. Sie verweigern einerseits Modernität, andererseits beschleunigen sie Modernisierungsprozesse. Die Segnungen des Medienzeitalters und die Möglichkeiten digitaler Kommunikation werden vom Fundamentalismus in Anspruch genommen, auch wenn das Weltbild, das er vermittelt, antimodern ausgerichtet ist. Insofern ist es zutreffend, vom Fundamentalismus als „modernem Antimodernismus“ (Gottfried Küenzlen) zu sprechen.


Einschätzungen

Fundamentalistische Bewegungen beantworten die Frage nach christlicher Identität hauptsächlich durch Abgrenzung – antihermeneutisch, antievolutionistisch, antipluralistisch, antifeministisch – bei gleichzeitiger Aufrichtung starker „patriarchalischer“ Autorität. Sie sind Teil des weltanschaulichen Pluralismus heutiger Gesellschaften. In Europa ist ihre Resonanz allerdings begrenzt. Anders als in den USA stellen sie keinen politisch einflussreichen Faktor dar. Christliche Kleinparteien bleiben in Deutschland bedeutungslos. Diese Hinweise bedeuten nicht, dass christlich-fundamentalistische Orientierungen in ihren politischen Implikationen völlig einflusslos wären und vernachlässigt werden könnten, wie die Praxis des Homeschoolings und Plädoyers für die Aufnahme des Kreationismus in Schulbücher zeigt. Der christliche Fundamentalismus stellt sich jedoch im europäischen Kontext vor allem als kirchenpolitische, seelsorgerliche und ökumenische Herausforderung dar. Quer durch die christlichen Konfessionen ist er heute die wohl „größte Kirchenspaltung der Gegenwart“ (Gerd Theißen). Im kirchlichen wie auch gesellschaftlichen Kontext wirkt er konfliktverschärfend, weil er Toleranz und Dialog verweigert und Feindbilder und scharfe Abgrenzungen pflegt. Das christliche Selbstverständnis in seiner trinitarischen Struktur wird in fundamentalistischen Bewegungen nur reduktionistisch zur Geltung gebracht. Gottes heilvolle Nähe in Wort und Sakrament gibt es nur in gebrochenen und vorläufigen Formen. Weder die Bibel noch eine bestimmte Gestalt von Kirche sind in den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen Gegenstand des Heilsglaubens. Im christlichen Zeugnis wird der Unterschied zur Wahrheit, die es bezeugt, gewahrt. Fundamentalistische Strömungen leugnen solche Spannungen und lassen sich von einem „zwanghaften Sicherheitsverlangen“ (Jürgen Werbick) beherrschen.
Entwicklungsbezogene Betrachtungsweisen fundamentalistischer Strömungen gehen davon aus, dass es Prozesse gibt, die zu deutlicheren Verfestigungen führen und solche, die auf größere Kommunikations- und Dialogbereitschaft zielen. Fundamentalistische Orientierungen können etwa bei jungen Menschen eine vorübergehende Erscheinung sein. Im Laufe der Zeit bewegen sich manche Fundamentalisten in die Richtung des konservativen Spektrums ihres jeweiligen kirchlichen und gemeindlichen Milieus. Auch wenn ökumenischer Dialog bzw. lernbereite Kontaktaufnahme mit anderen Glaubens- und Frömmigkeitsformen kein Allheilmittel gegenüber fundamentalistischen Orientierungen darstellt und keineswegs immer möglich ist, ist er ein wesentliches Instrument, Tendenzen fundamentalistischer Verfestigung und Selbstabschließung zu begegnen. 

Reinhard Hempelmann


Literatur

Alkier, Stefan / Deuser, Hermann / Linde, Gesche (Hg.): Religiöser Fundamentalismus. Analysen und Kritiken, Marburg 2005.

Beinert, Wolfgang (Hg.): „Katholischer“ Fundamentalismus. Häretische Gruppen in der Kirche?, Regensburg 1991.

Hochgeschwender, Michael: Amerikanische Religion: Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Berlin 2018.  

Marty, Martin E. / Appleby, R. Scott: Herausforderung Fundamentalismus. Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, Frankfurt/M. 1996.

Riesebrodt, Martin: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000.

Schwöbel, Christof: Gott im Gespräch. Studien zur theologischen Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011.

Werbick, Jürgen: Einleitung, in: Ders. (Hg.), Offenbarungsanspruch und fundamentalistische Versuchung, QD 129, Freiburg i.Br. u. a. 1991. 

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