Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche

Situation in der Gegenwart

Die Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche hat ihre Selbstständigkeit erst am Ende des 20. Jahrhunderts erhalten und gilt daher als das jüngste Glied der Orientalisch-Orthodoxen Kirchenfamilie.  Neben 2,5 Millionen Gläubige in Eritrea selbst (etwa 40% der Bevölkerung), leben mehrere hunderttausende Eritreer in der Diaspora. Es wird geschätzt, dass die Kirche ungefähr 1.500 Gemeinden, 22 Klöster und 15.000 Priester hat.  Die Eritreisch-Orthodoxe Kirche verfügt über neun Diözesen in Eritrea, eine in Europa und eine in Nordamerika. Derzeit leben in Deutschland schätzungsweise 60.000 orthodoxe Eritreer.  
Die gegenwärtige Situation der Kirche ist von einer Spaltung überschattet, die infolge eines staatlichen Eingriffs in die kirchlichen Angelegenheiten entstanden ist. Nachdem der dritte eritreisch-orthodoxe Patriarch Abune  Antonios (1927–2022; 2004 zum Patriarchen gewählt) sich gegen die zunehmende Einmischung des eritreischen Regimes in kirchliche Angelegenheiten ausgesprochen hatte, wurde er von der Regierung 2006 seines Amtes enthoben und inhaftiert.  Die unter Verletzung der kirchenrechtlichen Vorschriften stattgefundene Entthronung von Abune Antonios sowie die Wahl eines neuen Patriarchen wurde weder von anderen Orientalisch-Orthodoxen Kirchen noch von einem erheblichen Teil der eritreischen Diaspora  als legitim anerkannt. Der derzeit amtierende (fünfte) Patriarch Abune Kerlos wurde 2021 in Asmara inthronisiert.
 


Geschichte

Eritrea bildete bis zum 19. Jahrhundert den Nordteil des in seinen Grenzen immer wieder starken Veränderungen unterworfenen äthiopischen Reiches, das im Wesentlichen die Gebiete der heutigen Staaten Äthiopien und Eritrea umfasste. Sie hat damit einen großen Teil ihrer Geschichte mit der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche  gemeinsam. Obwohl die Eritreisch-Orthodoxe Kirche erst neuerdings ihre Eigenständigkeit erlangt hat, wurzelt sie daher dennoch in einer langen Tradition, die bis in die Spätantike reicht.
Den Weg zu ihrer Selbstständigkeit beschritt die Kirche nach der Beendigung des eritreischen Unabhängigkeitskriegs. Eine provisorische Nationalsynode, die sich 1991 in Gegenwart des Generalsekretärs der ebenfalls noch provisorischen eritreischen Regierung konstituiert hatte, legte den Grund zu einer nun eigenen Hierarchie. Sie wählte unter den Klosteräbten im Land fünf Diözesanbischöfe und ließ sie 1994 vom koptischen  Papst Schenuda III. einsetzen, der zuvor bereits zwei Bischöfe für die Eritreer in der Diaspora geweiht hatte. Die Koptisch-Orthodoxe Kirche verabschiedete sogleich ein Protokoll, in dem der Eritreisch-Orthodoxen Kirche die Autokephalie unter dem Ehrenprimat des koptischen Papstes von Alexandrien bestätigt wurde. 1998 erhob Schenuda III. die Eritreisch-Orthodoxe Kirche in den Rang einer autokephalen Patriarchatskirche und inthronisierte ihren ersten Patriarchen Abune Philippos.
 


Glaubensinhalte

Die Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche teilt ihre Glaubenstradition mit der Orthodoxen Kirche Äthiopiens . Bereits mit ihrem offiziellen Namen lehnt sie sich an den der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche an. Der Begriff „Tewahedo“, den die beiden Kirchen in ihrem Namen tragen, bedeutet auf Gəʿəz  „vereint als eins“ und bezieht sich auf die Lehre von der Art und Weise der Vereinigung der beiden Naturen in Christus. Somit steht die Eritreisch-Orthodoxe Kirche in der miaphysitischen  Tradition ebenso wie die anderen Kirchen der Orientalisch-Orthodoxen Kirchenfamilie .


Glaubens- und Gemeindeleben

Die kirchliche Organisation und die Frömmigkeitspraxis der Eritreisch-Orthodoxen Kirche weisen deutliche Ähnlichkeiten zu denen der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche auf. Jedoch hat die Kirche aufgrund der mangelnden Religionsfreiheit in Eritrea nur bedingt die Möglichkeit, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Dies zeigt sich sowohl in den Eingriffen in die interne Autonomie der Kirche durch staatliche Akteure als auch in den immer wieder vorkommenden Repressionen wegen unzulässiger Religionsausübung
Ein wichtiges Merkmal der Eritreisch-Orthodoxen Kirche, das ihr kirchliches Leben mitbestimmt, ist die enge Bindung an das koptisch-orthodoxe Patriarchat. Laut der bei der Verleihung der Autokephalie getroffenen Vereinbarungen soll alle drei Jahre eine ägyptisch-eritreische Gesamtsynode stattfinden.  Ebenso sind theologische Dialoge mit Kirchen, die nicht der orientalisch-orthodoxen Kirchenfamilie angehören, jeweils von einer gemeinsamen Kommission zu führen. Aufgrund des umstrittenen Status der Kirchenleitung der Eritreisch-Orthodoxen Kirche nach der Entthronung des Patriarchen Abune Antonios werden diese Vorgaben derzeit größtenteils nicht realisiert.
Ein Teil der eritreisch-orthodoxen Gemeinden in der Diaspora, die die Entthronung von Abune Antonios als illegitim ansahen, hat sich unter die Jurisdiktion des koptischen Patriarchats gestellt. Die entsprechenden kirchlichen Strukturen befinden sich teilweise noch im Aufbau. So wurde nach dem Segen des koptischen Papstes Tawadros II. im Jahr 2015 die eritreisch-orthodoxe Diözese von Skandinavien und Finnland ins Leben gerufen. 
 


Ökumene

Die Eritreisch-Orthodoxe Kirche beteiligt sich an der Arbeit der All Africa Conference of Churches und ist seit 2003 Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen.  Auch in Deutschland wird die Kirche zunehmend aktiv im ökumenischen Bereich. So hat die Eritreisch-Orthodoxe Gemeinde in Hamburg den Gaststatus in der regionalen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen erlangt.  
Das Haupthindernis für die aktive Teilnahme an ökumenischen Prozessen ist die erwähnte Spaltung innerhalb der Kirche und die – auch seitens anderer Orientalisch-Orthodoxer Kirchen – umstrittene Legitimation der offiziellen eritreischen Kirchenleitung. Nichtsdestotrotz bemüht sich der Ökumenische Rat der Kirchen um Aufrechterhaltung von Kontakten. So stattete 2017 eine ÖRK-Delegation der Eritreisch-Orthodoxen Kirche einen Solidaritätsbesuch ab. Im darauffolgenden Jahr wurde der Besuch durch eine hochrangige eritreisch-orthodoxe Delegation erwidert. 

Stanislau Paulau

gegengelesen von Aklilu Ghirmai
 


Literatur

  • Wolfgang Hage, Die Eritreisch-Orthodoxe Kirche, in: Ders., Das orientalische Christentum (= Die Religionen der Menschheit Bd. 29,2), Stuttgart: Kohlhammer 2007, S. 222–226.
  • Friedrich Heyer, Die Einwirkung des koptischen Patriarchats auf die Gründung des orthodoxen Patriarchats von Eritrea, in: Martin Tamcke (Hg.), Daheim und in der Fremde. Beiträge zur jüngeren Geschichte und Gegenwartslage der orientalischen Christen, Hamburg 2002, S. 252–259.
  • Kefelew Zelleke / Friedrich Heyer, Das orthodoxe Äthiopien und Eritrea in jüngster Geschichte, Aachen u.a. 2001.
  • Stanislau Paulau, Ecumenical Dialogue in the Eritrean Orthodox Tewahedo Church, in: Pantelis Kalaitzidis u.a. (Hg.), Orthodox Handbook on Ecumenism. Resources for Theological Education, Oxford 2014, S. 597–604
  • Rainer Voigt, Die Erythräisch-Orthodoxe Kirche, in: Oriens Christianus. Hefte für die Kunde des christlichen Orients 83 (1999), S. 187–192.
     
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