Primat

Begriffsklärung

Der Begriff „Primat“ ist abgeleitet vom lateinischen „primus“ = „der erste“. Mit dem Wort „Primat“ wird die Tatsache bezeichnet, dass es in der Leitungsstruktur der Kirche eine Person bzw. ein Amt gibt, die bzw. das den ‚ersten’ Platz innehat, d.h. den Vorsitz bzw. eine vorrangige Stellung.


Geschichte

Schon in der frühen Kirche, d.h. bis etwa in die Mitte des 3. Jahrhunderts hat sich eine hierarchische Ordnung entwickelt, die darin bestand, dass die Leitung einer Gemeinde einer einzelnen Person, einem Bischof zukam. Der Bischof einer größeren Stadt hatte den Vorrang unter den Bischöfen einer Provinz und später gab es einen ‚ersten Bischof‘, - manchmal auch als ‚Metropolit‘ bezeichnet -, unter den Bischöfen im Bereich eines geistlichen Zentrums bzw. einer Region des Römischen Reiches. Solch eine Vorrangstellung hatten z.B. die Bischofssitze von Antiochia, Alexandria, Rom, Konstantinopel, aber auch Karthago, Thessaloniki oder Mailand waren zeitweise solche Zentren. Einige dieser Bischöfe oder Metropoliten wurden schließlich als Patriarchen bezeichnet.

Laut Kanon 34 der „Apostolischen Kanones“ aus dem 4. Jahrhundert sollen „die Bischöfe jeden Volkes (ethnos)“ – vermutlich ist dabei an die politischen Provinzen gedacht – die Autorität desjenigen anerkennen, „der den ersten Platz unter ihnen einnimmt“. Sie sollen „nichts Wichtiges ohne seine Zustimmung tun“, aber auch dieser Erste soll nichts tun „ohne die Zustimmung aller“. Der Inhaber eines solchen Primatssitzes zeichnete sich dadurch aus, dass er den Vorsitz bei Synoden seiner Provinz innehatte und die Weihe von Bischöfen in seinem Territorium vornahm. Außerdem konnte er als Berufungsinstanz für die anderen Bischöfe fungieren. 

Unter diesen Voraussetzungen bildete sich in den ersten christlichen Jahrhunderten die sogenannte „Pentarchie“ heraus, das heißt die Vorrangstellung der fünf Patriarchate von Rom, Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem. Dabei wird deutlich, dass die Kirche immer den politischen Zentren folgte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in verschiedenen frühen Konzilsbeschlüssen immer wieder Rom (als Reichshauptstadt) eine Vorrangstellung innerhalb dieser fünf Zentren erhält. Bald aber wird Konstantinopel an zweiter Stelle genannt.

Eine erste Störung dieser Ordnung vollzieht sich in der Konsequenz des Konzils von Chalzedon (451), das vor allem im Bereich der Patriarchate von Antiochien und Alexandrien zur Entstehung von kirchlichen Parallelstrukturen führte, aus denen dann die non-chalzedonensischen oder orientalisch-orthodoxen Kirchen hervorgingen, - zunächst die syrisch-orthodoxe und die koptisch-orthodoxe Kirche. Auch diese Kirchen behielten das Primatsprinzip innerhalb ihres jeweiligen Territoriums bei.  

Im Bereich der Kirchen, die das Konzil von Chalzedon anerkannten, rückte konsequenterweise nach der Trennung von Ost und West das Patriarchat von Konstantinopel für die Kirche im oströmischen Reich an die erste Stelle.

In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass sich bereits im 8. Jahrhundert innerhalb der Pentarchie eine Konkurrenz zwischen den Patriarchaten von Rom und Konstantinopel herausgebildet hatte, die auch mit unterschiedlichen Verständnissen des kirchlichen Primats zusammenhängt: Im Westen des römischen Reiches entwickelte sich der Bischof von Rom für die verschiedenen Diözesen als Instanz, die über lokale Synodalbeschlüsse informiert werden musste und die in Streifragen angerufen wurde. D.h. im Westen entwickelte sich ein Primatsverständnis, das auf eine zentralistische Organisationsstruktur hin tendierte, während der Primat im Osten mit mehreren Zentren stärker als ein Vorrecht nach dem Prinzip des ‚primus inter pares‘ (Erster unter Gleichen‘) praktiziert wurde     

Aus diesem Grund wurde die Frage nach der Anerkennung des Primats des Bischofs von Rom einer der Gründe, die letztlich zum Bruch zwischen Ost- und Westkirche führten. Ebenso spielt diese Frage eine Rolle in der Kirchenspaltung, die durch die Reformation im 16. Jahrhundert innerhalb der westlichen Christenheit hervorgerufen wurde. In dem Konflikt, der zur Entstehung der anglikanischen Kirche führte, wurde von König Heinrich VIII. nicht aus theologischen, sondern aus praktischen Gründen der Primat Roms abgelehnt. Auch bei der Entstehung der Altkatholischen Kirche im 19. Jahrhundert ist die Nicht-Anerkennung des römischen Primats eine der wesentlichen Fragen, die zur Trennung führten.


Systematische Überlegungen

Aus den zitierten Apostolischen Kanones (s.o.) wird deutlich, dass der Primat nicht ohne die Gemeinschaft der Kirche denkbar ist. In diesem Sinne ist beim Nachdenken über den Primat immer auch das Prinzip der Synodalität mitzudenken. Die Versammlung der Gläubigen braucht, wie jede Versammlung, einen (oder auch mehrere) Vorsitzende(n). Und gleichzeitig ist ein solches Amt ohne die Rückkopplung an die Versammlung sinnlos. Zwei Fragen, die dabei in den Kirchen allerdings unterschiedlich beantwortet werden, sind: a) die Frage der Gestaltung des Vorsitzes (eine oder mehrere Personen (Gremium)/ Kleriker oder Laien…) und b) die Frage nach der konkreten Beziehung zwischen Vorsitz und Versammlung bzw. nach der Umsetzung dieser Wechselwirkung (Macht der Vorsitz Vorgaben? Hat der Vorsitz Vetorecht? Wie werden Beschlüsse vorbereitet?...).

In der Alten Kirche hat sich das Prinzip der Synodalität und damit des Primats zunächst auf der lokalen und regionalen Ebene in Konzilien und Synoden manifestiert. Schließlich hat es sich auch auf der Reichsebene in den sogenannten Ökumenischen Konzilien durchgesetzt, von denen allerdings nur zwei (die ersten beiden) von wirklich allen damals existierenden Kirchen anerkannt wurden bzw. werden. 

Die Art und Weise, wie der Primat verstanden und ausgeübt wurde und wird, hat sich unterschiedlich entwickelt. Man kann unterscheiden zwischen einem ‚Ehrenprimat‘, dessen Aufgabe vor allem in der Repräsentation besteht, und einem ‚Jurisdiktionsprimat‘, der mit bestimmten Vollmachten ausgestattet ist – wobei es Mischformen gibt, bei denen der eine oder der andere Aspekt stärker betont wird.


Der Primat in den verschiedenen Konfessionen

Im Hinblick auf das Primatsverständnis kann man die verschiedenen Kirchen weltweit einteilen in solche, bei denen der Primat eine größere Rolle spielt und solche, die die Synodalität bzw. die Rolle von Konzilien bei der Leitung der Kirche stärker in den Vordergrund stellen. Ein Beispiel für die erstgenannte Gruppe ist die römisch-katholische Kirche, in der der Papst als Nachfolger des Apostels Petrus verstanden wird und einen Jurisdiktionsprimat innehat. Der deutlichste Gegenpol sind die kongregationalistisch aufgebauten Kirchen im protestantischen Bereich. Kirchen, die dazu tendieren, das Prinzip eines Primats in den Vordergrund zu stellen, sind auf einem episkopalen System aufgebaut, bei dem die Entscheidungshoheit bei einem einzelnen Bischof liegt. Im Kongregationalismus liegt sie bei der Gemeinde bzw. der Gemeindeversammlung. In der Realität findet man aber praktisch in allen Kirchen eine Mischform zwischen beidem, die in unterschiedlicher Weise in Richtung des einen oder des anderen Poles tendieren.

Die römisch-katholische Kirche ringt derzeit darum, die wechselseitige Angewiesenheit von Primat und Synodalität in eine bessere Ausgeglichenheit zu bringen.

Auch in den orthodoxen Kirchen spielt der Primat eine wichtige Rolle. Seine Ausübung innerhalb der verschiedenen autokephalen Kirchen gestaltet sich allerdings verschieden. Auf der pan-orthodoxen Ebene ist das Primatsverständnis umstritten. Der Streit geht vor allem um die Frage, wer – eine Mutterkirche oder generell das Ökumenische Patriarchat ? – in der Orthodoxie die Autokephalie (Selbständigkeit) verleihen darf, wenn eine Kirche danach verlangt.

In den reformatorischen Kirchen wird generell das gemeinsame Entscheiden als Mitspracherecht aller auf der Grundlage des Priestertums aller Gläubigen betont. Allerdings waren zunächst die Synoden nur von Amtsträgern besetzt, erst seit dem 19. Jahrhundert ist die Laienbeteiligung umgesetzt.


Der Primat in der ökumenischen Diskussion

Aus den historischen Entwicklungen ist ablesbar, dass die Primatsfrage in der ökumenischen Diskussion vor allem dort auftaucht, wo die römisch-katholische Kirche Teil der Gespräche ist. Deshalb war es ein wichtiger Schritt, als 1995 Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Ut unum sint“ dazu aufforderte, „eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet.“ Dieses Anliegen wurde später auch von Papst Franziskus übernommen und im jüngsten Dokument „Der Bischof von Rom“ (2024) weiter entwickelt.

Vor allem im Dialog der katholischen Kirche mit der Orthodoxie wurde deutlich, dass von Seiten der Orthodoxen Kirchen zwar der Bischof von Rom als ‚Erster unter Gleichen‘ anerkannt werden könnte, aber nicht als ‚Höchster‘ unter den Bischöfen. Diesbezüglich hatte der damalige Kardinal Joseph Ratzinger bereits 1976 verlauten lassen, dass Rom von den Ost-Kirchen nicht mehr an Primatslehre verlangen müsse als das, was im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt worden sei. Konkret benennt er als „wesentlichen Gehalt der Primatsaussagen des ersten Jahrtausends“ die Nachfolge Petri und die Stellung des Bischofs von Rom als erster „an Ehre“ unter den Patriarchen.  Auch wenn in dieser Vorstellung kaum wahrgenommen wird, dass schon im 1. Jahrtausend unterschiedliche Vorstellungen vom Primat in der Kirche existierten, ist doch dieses Diktum Ausdruck eines Umdenkens in der katholischen Kirche, das in der Ökumene Fortschritte gezeitigt hat. 

Diese Vorstellung wurde auch in Gesprächen der katholischen mit den orientalisch-orthodoxen Kirchen und mit der anglikanischen Kirche übernommen, und evangelische Theologen haben daran angeknüpft und verlauten lassen, dass Gemeinschaft ‚mit‘ dem Papst denkbar sei, aber keine Gemeinschaft ‚unter‘ dem Papst.

Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang tauchte vor allem im Dialog mit der Anglikanischen Gemeinschaft und reformatorischen Kirchen auf: die Frage, inwieweit das Primatsamt nach göttlichem Recht besteht und damit für die Kirche konstitutiv ist.

Im Zusammenhang des multilateralen ökumenischen Dialogs auf Weltebene im Rahmen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK wurde festgestellt, dass zur Entscheidungsfindung ein Amt der Aufsicht (Episkopé) nötig ist, dessen Aufgabe darin besteht, die Kirche in der Kontinuität im apostolischen Glauben und der Einheit des Lebens zu erhalten. In diesem Amt spiegelt sich „diejenige Eigenschaft der Kirche wider, die als ‚Synodalität‘ oder ‚Konziliarität‘ bezeichnet werden kann.“ Daher soll es auf „persönliche, kollegiale und gemeinschaftliche Weise“ ausgeübt werden. Damit ist gemeint, dass dieses Amt sowohl in Beziehung zu anderen Amtsträgern als auch in Beziehung zum gesamten Kirchenvolk zu praktizieren ist. 

Auch dass „ein universalkirchlicher Dienst an der Einheit und der Wahrheit“ dem Wesen und Auftrag der Kirche entspricht, der „die gesamte Christenheit“ repräsentiert und „eine pastorale Aufgabe an allen Teilkirchen“ hat, scheint inzwischen Konsens zu sein.

Uneinigkeit zwischen den Kirchen kommt aber dort zutage, wo es zum einen um die Gestaltung und Autorität eines solchen Amtes und andererseits um die Teilnahme, die  Kompetenz und Entscheidungsvollmacht von Laien im Prozess der Entscheidungsfindung geht.

                                                                                                                                                                                                                         Dagmar Heller

 


Literatur

  • Horn, Stefan O. u.a. (Hgg.), Der römische Primat - angefragt in Zeiten des Umbruchs. Nicäa, Konstantinopel, Chalcedon und Reformation in England, St. Ottilien 2024.

  • Im Dienst an der Gemeinschaft. Das Verhältnis von Primat und Synodalität neu denken. Eine Studie des Gemeinsamen orthodox-katholischen Arbeitskreises St. Irenäus, Paderborn 2018
Zurück